Renaissance Kabinettschrank
NM 00146
Irgendwo haben wir doch alle etwas versteckt. Angefangen in der Kindheit, wenn wir mit Freunden tuscheln, wenn wir einen geheimen Platz finden, an dem wir vielleicht einen Schatz vergraben oder uns eine Hütte bauen. Später ist es vielleicht eine Liebschaft, von der wir niemandem etwas erzählen oder bloss, dass wir regelmässig schwarzfahren. Geheimnisse sind immer sowohl Selbst- wie Fremdbestimmung, wir grenzen uns ab von den Anderen auf der Suche nach unserer eigenen Identität. Diese Grenzziehung ist eine zentrale Praxis in unseren Kulturkreisen. Dennoch fordern wir immer mehr Transparenz. Die Entwicklung tendiert in eine Richtung, wo wir Privates offenlegen und ebendiese Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem immer mehr verwischt werden. Die Medien sind voller Berichte über Skandale; Politiker werden nicht mehr nur über ihre Sachkompetenz und ihre Argumente beurteilt, vielmehr stehen heute Sympathie und die damit verbundenen positiven Emotionen im Vordergrund. Prominente werden verfolgt, die Klatschpresse jagt nach neuen intimen Details. Demgegenüber bieten einem das Internet und Fernsehen die Möglichkeit, ganz freiwillig seinen Alltag und seine Gefühle mit der Welt zu teilen: Blogs, Online-Tagebücher und Fotogalerien auf persönlichen Webseiten oder die diversen Reality-Shows im Fernsehen geben Einblick in das Leben von Fremden. Diese Art der Selbstdarstellung und –vermarktung ist ein Trend, der kulturelle Wertehaltungen wie Diskretion und Tabu ignoriert. Sie führt zu einem Verlust von Distanz, ohne die sich Intimität nicht mehr aufrechterhalten lässt. Was aber ist übriggeblieben von der Privatsphäre und dem Geheimnis und weshalb sind sie derart wichtig für uns?
Das Objekt des Monats Mai ist ein Hinweis darauf, welch lange Tradition das Geheimnis in unserer Gesellschaft hat. Vermutlich zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert entstanden, ist dieses schöne Objekt mit den reich verzierten Schnitzereien und dem ziselierten Schloss über den Historischen Verein Nidwalden schliesslich ins Museum gelangt. Der aus der Renaissance stammende Kabinettschrank ist ein Geheimnisträger im dinglichen Sinne. Bei genauerer Betrachtung erkennt man im kunstvoll gestalteten Schmuckkästchen da und dort eine Lücke, eine Ungereimtheit, die darauf hinweist, dass sich dahinter etwas verbirgt. Und tatsächlich sind hinter Schieberiegeln und -türchen zahlreiche Geheimfächer versteckt. Geheimnisse brauchen also Orte, wo sie bewahrt werden können, geistige Räume und auch reale, dingliche Räume. Diese Räume bilden die Voraussetzung für eine Kultur des Geheimen, in der bestimmte kulturelle Techniken bekannt sind, damit Geheimnisse überhaupt entstehen können. Das heisst, es bedarf einer Lebenswelt, in der Möglichkeiten bestehen sich einerseits in einen privaten, intimen Raum zurückzuziehen und andererseits die persönliche Freiheit gewährleistet ist, dort etwas tun zu können, das geheim bleiben kann.
Diese Räume haben sich spätestens in der frühen Neuzeit beziehungsweise in der Aufklärung aufgetan. Mit der Forderung nach Vernunft und Sachlichkeit ging einher, dass die Öffentlichkeit die geistige Emanzipation fördern sollte – ganz im Sinne des Projektes «Fortschritt durch Publizität». Damit war eine strikte Trennung von privater und öffentlicher Sphäre geschaffen. Auf der anderen Seite änderte sich in der frühen Neuzeit die bürgerliche Wohnsituation. Wo vorher grosse Wohnbereiche vorherrschten, die spärlich geteilt waren, wurden nun vermehrt einzelne Zimmer gebaut. Neuerungen waren Zwischenwände, Türen, Schlösser, Schlüssel, Fensterläden usw., welche einen Wandel in der Kultur des Sehens und Gesehenwerdens hervorbrachten und damit die Entstehung neuer Formen der Intimität und Privatsphäre begünstigten.
Ist der Raum als Voraussetzung gegeben, werden kulturelle Muster adaptiert, die eine «Gesellschaft des Geheimen» ermöglichen. Ganz zentral sind dabei die zwischenmenschlichen Kommunikationsmuster und die damit verbundenen Wertehaltungen. Der Soziologe Georg Simmel hat in seinen Schriften Psychologie der Diskretion und Das Geheimnis aufgedeckt, dass das Geheimnis einerseits eine soziale Funktion hat und andererseits die soziale Welt strukturieren kann. Das Geheimnis teile die soziale Welt in eine offenkundige und eine verborgene Welt, behauptet er. Gleichzeitig wird das Verhältnis zwischen Menschen dadurch bestimmt, «ob und wieviel Geheimnis in ihm ist» (i). Es geht also darum, was wir preisgeben und was nicht. Dieses Spannungsverhältnis gibt den zwischenmenschlichen Beziehungen einen eigentümlichen Attraktivitätsreiz, wodurch das Spiel zwischen Entbergung und Verbergung erst interessant wird. Diese soziale Beziehung, die durch das Geheimnis gespiesen wird, führt uns wieder zurück zu unseren kulturellen Wertehaltungen: Diskretion, Loyalität, Tabu. Denn, um noch einmal Simmel sprechen zu lassen: «Das Recht auf Wissen, das Recht auf Fragen wird durch das Recht auf Geheimnis begrenzt» (ii).
Die Grenze und die Achtung dieser Grenze werden zum ausschlaggebenden Punkt in der Diskussion um Privatheit und Öffentlichkeit und zum Zentrum einer Kultur des Geheimen. Das Geheimnis strukturiert unsere sozialen Beziehungen, macht sie erst interessant, reguliert in unserer Kommunikation das Verhältnis des Mitteilens und Nichtmitteilens und schützt damit unsere Privatsphäre. Der Kabinettschrank ist als Objekt Zeuge dieser kulturellen Praxis und erinnert daran, welch wichtige, mittlerweile alltägliche, Errungenschaften sie mit sich gebracht hat und welche Verluste wir hinsichtlich einer Kultur des Geheimen heute in Kauf nehmen.
Autorin: Magdalena Bucher, 2015
Quellen
- Aichinger, Wolfram: Das Geheimnis als soziale Form und die Kultur der Geheimhaltung. Verschwörung und Kultur des Geheimen. In: Text Raum, Nr. 41. 2015. S. 8-13.
- Imhof, Kurt, Peter Schulz (Hg.): Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung des Öffentlichen. Opla-den/Wiesbaden 1998.
- Jurczyk, Karin, Mechtild Oechsle (Hg.): Das Private neu denken. Erosionen, Ambivalenzen, Leistungen. Münster 2008.
- Keller, Mitra: Geheimnisse und ihre lebensgeschichtliche Bedeutung. Eine empirische Studie. Berlin 20112.
- Simmel, Georg: Psychologie der Diskretion und das Geheimnis: Eine sozialpsychologische Skizze. In: Aufsätze
und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 2, Gesamtausgabe Nr. 8, Frankfurt/Main 1993. - Spitznagel, Albert (Hg.): Geheimnis und Geheimhaltung. Erscheinungsformen – Funktionen – Konsequenzen. Göt-tingen u.a. 1998.
(i) Simmel, Georg: Psychologie der Diskretion und das Geheimnis. S.317.
(ii) Ebd. S.86.