Eisenplastik von Josef Maria Odermatt
NM 9743
Ist der Wellenberg jetzt vom Tisch?
Mit dieser «Frage der Woche» wendete sich die Nidwaldner Zeitung an einen Gegner der ersten Stunde des Endlagers für radioaktive Abfälle im Wellenberg. Einige Tage zuvor, am 10. Juni 2018, befürwortete eine grosse Mehrheit der Nidwaldner Stimmbevölkerung eine Stellungnahme des Regierungsrats: Der Wellenberg soll keine Reserve-Option für das Lagern von nuklearen Abfällen mehr sein.
Der Wellenbergkonflikt veränderte das politische Leben Nidwaldens grundlegend. Zuvor prägte die Landsgemeinde-Demokratie und die traditionelle Vorherrschaft der Konservativen Partei die kantonale Politik. Der Kampf um das Atomendlager im Wellenberg stärkte die Umweltbewegung in Nidwalden und führte 1990 zum bisher erfolgreichsten Wahljahr der links-grünen Partei (Demokratisches Nidwalden). Im selben Jahr dokumentierte der in Beckenried geborene und national bekannte Filmemacher Fredi M. Murer die politische Auseinandersetzung in Form einer filmischen «Landsgemeinde». Die eigentliche Landsgemeinde wurde als Folge der Wellenbergdebatte 1996 abgeschafft. Die tiefe Stimmbeteiligung und das fehlende Stimmgeheimnis rieben sich mit der höchst umstrittenen Vorlage. Befürworter und Gegner des Wellenbergs waren etwa gleich stark und die Stimmung auf dem Landsgemeinde-Platz soll oft auf der Kippe – beinahe kam es zum Handgemenge – gestanden sein. Schliesslich lehnte das Stimmvolk an zwei Urnenabstimmungen (1995 und 2002) die Vorbereitung für ein geologisches Tiefenlager im Wellenberg ab.
Kunst des Widerstands
Diese jahrlange, politische Auseinandersetzung im Kanton Nidwalden fand ihre Aufnahme auch in der Kunst. Seit Beginn der Debatte machten verschiedene Künstler gegen den Bau eines Sondierstollens im Wellenberg mobil. 2002, kurz vor der Abstimmung, kam es zu einer ungewöhnlichen Künstleraktion: Auf die Initiative von einigen Nidwaldner Künstlern haben sich verschiedene Menschen aus allen Gemeinden des Kantons bereit erklärt, ihre Wohnungen zu öffnen. Sie gewährten je einem Werk eines Kunstschaffenden aus der Region oder aus der übrigen Schweiz Gastrecht. Die Initiatoren nannten die Wohnräume mit den ausgestellten Kunstwerken «die stillen, unsichtbaren Zellen des Widerstandes», die als «Kraftzentren gegen den Stollen» dienen sollten. Mit dem Projekt «5 vor 12. Chambres de Résistance» wollten Künstler, wie Roman Signer, Fischli/Weiss, Bernhard Luginbühl oder der einheimische Josef Maria Odermatt, Verantwortung für ihre Umwelt übernehmen und die Verpflichtung eingehen, sich zu gesellschaftlichen und politischen Problemen zu äussern. In der Radiosendung «Reflexe» des DRS 2 umschrieb Mitinitiator und Künstler Jos Näpflin die Aktion mit dem Begriff der «Zivilcourage». Sein Freund Josef Maria Odermatt erhoffte sich in derselben Sendung nebst der Begegnung mit der Kunst eine «Demonstration gegen Wellenberg».
Der Stanser Eisenplastiker Josef Maria Odermatt (* 1. April 1934; † 6. November 2011) beschäftigte sich schon zuvor mit der nuklearen Gefahr. Nach der Explosion des Kernreaktors von Tschernobyl 1986 schmiedete er, zutiefst betroffen von der Katastrophe, eine Gruppe bestehend aus drei zusammengehörigen, gleichen, auf dem Boden liegenden, kastenförmigen Einzelobjekten. Odermatt gab seinen Schöpfungen keine Namen oder Titel, sondern er überliess den Betrachtern die Entscheidung, was sie in ihnen erkennen wollen. Für die KunsthistorikerInnen liegen bei diesem Kunstwerk die Assoziationen auf der Hand, die Bedeutung bleibt dennoch vielschichtig: In den Kisten könne man Kindersärge sehen. Es sind deren drei und Odermatt hatte selber drei Kinder. Man könne die Kisten jedoch auch als Behälter für Radioaktivität – dem «Sarkophag» in Tschernobyl nicht unähnlich – deuten. Oder man interpretiert sie als kleine Schatztruhen, in denen man alles wegschliesst, was vor dem Unglück bewahrt werden muss. Er selber sagte über seine Kunst 2007 anlässlich der Retrospektive in der Turbine Giswil: «Es ist sehr formal, aber es muss eine Aussage da sein. Also, es ist nicht irgendeine Dekoration, sondern es ist ein Inhalt, wo man spürt.»
Banngesten eines Bedrohten
Die drei Kisten waren unter anderem 1988 während des Tellspielsommers im Foyer des Tellspielhauses in Altdorf zu sehen. Im Ausstellungskatalog schrieb Karl Iten, dass Odermatts Plastiken eine direkte Verbindung zu unserem Leben in der heutigen Welt hätten, die voller Bedrohungen, Ängste und unnennbarer Gefahren sei. Seine Werke seien im Grunde genommen Banngesten eines Bedrohten, die er dem Namenlosen und Unfassbaren entgegenstelle.
Wenn man im Ausstellungskatalog die kurzen Texte von Regula Odermatt-Bürgi, Kunsthistorikerin und Odermatts Ehefrau, liest, könnte man durchaus Gänsehaut bekommen. In ihren Passagen versucht sie die Hintergründe auszuloten und die Befindlichkeiten ihres Mannes aufzuzeigen, aus denen heraus die einzelnen Werke gewachsen sind und in einem langedauernden Prozess ihre Form gefunden haben. Zu unserem Objekt des Monats schreibt sie folgendes:
«1986 – ein Katastrophenjahr, das Angst, Wut, Verzweiflung, Anklage und Resignation hinterlässt. (Tschernobyl… Basel… Eine Umwelt, die sich bedrohlich verändert… In der engsten Umgebung: die Nidwaldner Regierung, die nach radioaktiven Abfällen ruft, aus wirtschaftlichen Gründen, es kann im Niederbauenstock sein, im Wellenberg, egal wo. Egal wo.)»
Ein eindrückliches Gespräch mit der Kunsthistorikerin Brigit Staiger, das im Werkkatalog nachzulesen ist, offenbart Odermatts Stimuli seines Kunstschaffens. Die Traumata Angst und Lebensbedrohung habe er in seinem Leben von früh an erlitten und später ging er stets von diesen Lebenserfahrungen aus. Auf Bedrohung, Gefahr, Zerstörung, Arroganz und Dummheit reagiere er mit seinen eisernen Gegenmanifesten. Der Fortschrittsoptimismus war ihm fremd, die Frage nach dem Tod zentral. Über seine verklammerten Werke der achtziger Jahre sagte er, dass sie Dinge ausdrücken, die ihn in den letzten Jahren belastet hätten und die er nicht ignorieren könne:
«Metaphysische Dinge wie das Sterben und der Tod. Bedrohliches wie Gewalt und Unterdrückung. Verseuchung des Lebensraumes oder in meiner engsten Heimat das Verlochen radioaktiver Abfälle.»
Das Schmieden hingegen machte Odermatt glücklich. Der ausgebildete Schlosser verfügte als Künstler von Anfang an über alle Techniken der Eisenverarbeitung bis hin zur handwerklichen Perfektion. Seine Plastiken schmiedete er ausschliesslich selber und er arbeitete am liebsten allein in seiner «Bude», wie er sein Atelier auf der Huob in Oberdorf nannte. In seinem eigenen Arbeitsrhythmus versuchte er seine Gefühle in Form und Eisen zu bannen. Denn Bannzeichen, um mit Karl Itens Worten abzuschliessen, sind gleichzeitig immer auch Hoffnungszeichen. Das Objekt des Monats Juli soll ein solches Hoffnungszeichen sein.
Autor: Mounir Badran, Juli 2018
Literatur und andere Quellen
- Karl Iten (Hrsg.), Josef M. Odermatt. Geschmiedete Eisenplastiken, Altdorf 1988.
- Gabriela Christen, «Kunst gegen den Wellenberg. ‹Chambre de Résistance: 5 vor 12›», in: Reflexe, DRS 2, 5.9.2002.
- Gabriela Christen, «Widerständig», in: Kulturpreis der Innerschweiz 2004. Josef Maria Odermatt, Eisenplastiker Stans, hrsg. vom Regierungsrat des Kantons Nidwalden, Stans [2004].
- Felix Schenker, «Turbine Giswil. Josef Maria Odermatt», in: arttv.ch, 2007 https://www.arttv.ch/kunst/josef-maria-odermatt-turbine-giswil-2007/, 17.7.2018).
- Brigit Staiger (Hrsg.), Josef Maria Odermatt. Werkkatalog der Eisenplastiken 1962-2007, Zürich 2008.
- Kunstmuseum Bern, Matthias Frehner, Regula Berger (Hrsg.), Eisen und Stahl. Paolo Bellini, James Licini, Josef Maria Odermatt, 3 Bd., Zürich 2013.
- Karin Schleifer-Stöckli, «Politische Entwicklung: Vom Bannalpstreit zum Wellenberg», in: Geschichte des Kantons Nidwalden. Band 2. Von 1850 bis in die Gegenwart, hrsg. vom Kanton Nidwalden, Stans 2014, S. 106–114.
- Jos Näpflin, 5 vor 12. Chambres de Résistance [Webseite der Künstleraktion] (http://www.josnaepflin.ch/HOMEPAGE_chambres/startseite.html, 17.7.2018).