B.2Mythos Pfahlbauer
Nachdem der Historiker Ferdinand Keller vor gut 150 Jahren in Meilen am Zürichsee erstmals Pfähle aus dem Wasser ragen gesehen und diese als Überbleibsel eines prähistorischen Dorfes gedeutet hatte, brach eine regelrechte Euphorie aus und überall in der Schweiz und Europa begann man entlang der Seen und Flüsse nach ehemaligen Pfahlbauten zu suchen. Im Jahr 1854, nur einige Jahre nach dem Sonderbundskrieg und kurz nach der Gründung des Bundesstaates 1848, kam diese Entdeckung gelegen: Die «neuen Urschweizer» wurden mit durchwegs positiven Eigenschaften charakterisiert. Sauber seien sie gewesen, verteidigungsstark auf ihren im See erbauten Dörfern, geschützt vor wilden Tieren und anderen Feinden, umgeben von der Alpenwelt. Mit dieser romantischen Vorstellung von den Pfahlbauern wollte man sich identifizieren – der Pfahlbauermythos war geboren. Die Wehrhaftigkeit und die Naturverbundenheit, die man in Siedlungen und Hinterlassenschaften der Pfahlbauer zu lesen glaubte, sind willkommene Tugenden gewesen. Von der Faszination für das Leben in der Steinzeit zeugen zwei Bilder des Schweizer Malers Albert Anker: Der Pfahlbauer (1886) und Die Pfahlbauerin (1873).
Teils durch natürliche klimatische Schwankungen verursacht, teils durch künstlich herbeigeführte Seespiegelsenkungen wurden die zahlreichen Funde erst möglich. Die vielen, nahe beieinander liegenden Pfähle, die im Wasser gefunden wurden, liessen die Altertumsforscher im 19. Jahrhundert in Analogie zu Abbildungen in Reiseberichten über Pfahlbauten in der Südsee vermuten, dass die Dörfer auf grossen Plattformen auf dem Wasser gebaut worden waren. Eine derartige Rekonstruktion der Häuser auf Pfählen in den Schweizer Seen sollte sich später als Missverständnis entpuppen.