Wahrsagespiel
NM 3232
Die Abende werden länger, die Luft ist lau und der eine oder die andere werden sich zu geselligem Spiel und auf ein Glas zusammensetzen. Spielen, zusammensitzen und sich austauschen ist eine alte Praxis, seit vielen Jahrhunderten gehört das Spiel in fast jeder kulturellen Gemeinschaft zum Alltag. In einer Nidwaldner Quelle von 1588 ist zum Beispiel die Rede vom Kartenspiel als Kurzweil beim «zDorf gehen» einfach so oder im Sinne des Kiltganges. «zDorf gehen» bedeutet heute noch jemanden besuchen. Beim Kiltgang war die elterliche Stube des verehrten Mädchens das Ziel, wo man gemeinsam mit den Eltern zusammensass, bewirtet wurde und Karten spielte. Für die Innerschweiz und insbesondere den Kanton Nidwalden hat dabei das «Kaisern» immer eine bedeutende Rolle gespielt.
1572 ist das Spiel in der Schweiz erstmals nachweisbar. Am 4. Mai 1572 hatte der Rat von Nidwalden ein allgemeines Spielverbot erlassen, davon ausgenommen aber blieben Tarock (Troggen), Munteren und Kaisern (Keysseren): «Diese nachfolgend dry spil, als nämlichen troggen, munteren und keysseren, die sindt erlaubt»(i). Die Spielverbote hatten im katholischen Kanton Nidwalden viel mit den religiösen Feiertagen zu tun – in der Fasten-, Advents- und Weihnachtszeit blieb das Spielen verboten. Über die genaue Herkunft des «Chaiseren» gibt es keine Gewissheit, wahrscheinlich ist, dass es sich um eine Abwandlung des Tarockspiels handelt, welches um 1440-1450 an den Höfen von Mailand und Ferrara entstanden ist. Wesentlich an dieser Verbindung ist die Gemeinsamkeit des Trumpfspiels: Der Name «Trumpf» stammt von «trionfi» das im Italienischen so viel wie Triumph bedeutet.
Diese Herkunftsvermutung schliesslich bildet die Verbindung zu unserem Objekt des Monats, obwohl es sich dabei weder um ein Set Jasskarten noch um klassische Tarock-Karten handelt. Im Archiv sind die Spielkarten als «Wahrsagespiel» abgelegt worden, welche Art der Vorhersage und wie die Karten benutzt werden, war nicht vermerkt. Wir haben uns also bei der Recherche auf die Suche nach einem Kartenspiel gemacht und sind dabei als erstes auf das Kaiserspiel getroffen. Das «Chaiseren» nämlich ist in Nidwalden allgegenwärtig – in der Schweiz einer der letzten Orte, wo das ziemlich komplizierte Spiel noch immer praktiziert wird. Die Herkunft des «Chaiseren» hat uns in der weiteren Recherche die Verbindung zum Tarock herstellen lassen und zwar, weil wie oben kurz erwähnt, vom Tarock das Trumpf-Spiel übernommen wurde.
Zwischen Spiel, Zauber und Flunkerei
Wie so oft, wenn Dinge und Gegenstände eine gewisse Popularität erlangen, entstehen davon verschiedene Varianten und Ausführungen. So auch bei Kartenspielen wie dem Tarock. Luxusversionen und Liebhaber-Karten fanden grossen Anklang. Diese waren im Erwerb bedeutend teurer und besonders kunstvoll gestaltet. Vielfach hatten die bemalten Karten einen Themenschwerpunkt, wie beispielsweise Industrie, Berglandschaften, Königsfamilien usw. Diese bunten Karten wurden schliesslich nicht mehr zum Spielen, sondern als Tarot-Karten zur Vorhersage genutzt. Die Veränderung in der Nutzung der Karten begann wohl Mitte 1800 und fand ihren Höhepunkt zur Jahrhundertwende. Die vielen gesellschaftlichen Veränderungen, die Kriege und Zeiten der Krise begünstigten einen regelrechten Boom in der Wahrsagerei und machten sie erstmals in diesem Ausmass gesellschaftsfähig. Die 36 bebilderten Wahrsage-Karten aus unserer Sammlung stammen höchstwahrscheinlich genau aus dieser Zeit, sind aber keine Tarot-Karten, sondern Lenormand-Karten. Sie gehen zurück auf eine gewisse Mademoiselle Lenormand, die ein halbes Jahrhundert lang (1772-1843) als Hellseherin und Wahrsagerin während der Revolution, des Empire, der Restauration und der Juli-Monarchie in Paris die grossen und wichtigen Leuten beraten hat. Ihre soziale Stellung und auch ihre tatsächlichen Leistungen auf dem Gebiet der Vorhersage bleiben zwiespältig, denn sie sind hauptsächlich durch ihre eigenen Memoiren belegt, ein Werk der Eigenpropaganda. Lenormand zufolge hätten alle berühmten Politiker, Konterrevolutionäre, bürgerlichen Damen, Künstler und Wissenschaftler der Zeit bei ihr vorgesprochen und das genaue Orakel ihres Schicksals erhalten. Trotz ihrer dubiosen Geschichte wird Mademoiselle Lenormand auch eine Gabe nachgesagt: Gekonnt habe sie Geheimnisse gelüftet und Vorhersagen so angepasst, dass sie bei den starken Geistern unerbittlich, bei den schwachen jedoch aufbauend und hoffnungsvoll prophezeite.
Die wohl allgemein bekannteren Tarot-Karten sind vom Aussehen her mit unseren herkömmlichen Spielkarten vergleichbar, weil ihr Blatt ebenfalls in vier Farben zeigt. Ähnlich wie beim Tarot, werden auch die Lenormand-Karten zur Lebensberatung ausgelegt, äusserlich gleichen sie sich aber kaum. Lenormand-Karten sind von 1 bis 36 nummeriert und zeigen auf jedem Blatt eine andere, farbige Abbildung aus der Natur, einzelne Objekte, Tiere oder Menschen. Über der Zeichnung steht auf einem Banner ein Spruch geschrieben, kleine Weisheiten und Voraussagen.
Die Ähnlichkeit mit dem Tarot in der Lebensberatung liegt vor allem in den Möglichkeiten der Auslegung. Der Blick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildet dafür ein klassisches Beispiel. Im Gegensatz zu den Tarot-Karten sind Lenormand-Karten insbesondere für Voraussagen innerhalb sehr genau definierter Zeitabschnitte (einzelne Wochentage oder Monate) geeignet.
Neben der wahrsagerischen Auslegung wurden die Lenormand-Karten tatsächlich auch spielerisch gebraucht – so zum Beispiel als Rennspiel mit zwei Würfeln, bei dem alle Karten ausgelegt wurden. Mit einer Figur hüpfte man wie beim «Leiterlispiel» von Karte zu Karte. Die Bedeutung der Karten hatte jeweils positive oder negative Auswirkungen auf den weiteren Spielverlauf.
Im Folgenden einige Beispiele der Sprüche auf den Lenormand-Karten aus unserer Sammlung. Die Sprüche können von Set zu Set variieren, teilweise sind sie sogar ganz ersetzt durch ein klassisches Vier-Farben-Blatt. Gleich bleiben die gezeichneten Symbole wie das Kleeblatt (Nr.2), das Kind (Nr.13), der Hund (Nr.18) usw.
Nr.2: «Kleeblatt, nicht umringt, Dir viel Freude bringt. Schweben Wolken nah, sind bald Leiden da.»
Nr.13: «Es folgt Dir dieses Kind, Dass gut bist und gelind, Von Deinen Freunden stets begehrt, Und allen andern hochverehrt.»
Nr.18: «Ist der Hund Dir nah‘, Treu den Freund ich sah. Hündchen aber fern Dir ist, Deutet’s Falschheit und auch List.»
Nr.25: «Lieget rechts der Ring, Heirat köstlich Ding. Liegt er zur linken Hand Löst sich Dein Liebesband.»
Nr.31: «Glänzt dir nah die Sonne, Lebst in Glück und Wonne, Doch wirst in Kummer alt, Wenn Sonn‘ Dir fern und kalt.»
Nr.35: «Mit Trost dir dieses Bild Den grossen Kummer stillt, Doch spricht es zu Dir sacht: ‹Gib immer auf Dich acht.›»
Autorin: Magdalena Bucher, 2015
Quellen
- Alscher, Hans-Joachim (Hg.): «Tarock» mein einziges Vergnügen… Geschichte eines europäischen Kartenspiels. Wien 2003.
- Kopp, Peter F.: Die drei ältesten Innerschweizer Kartenspiele und ihre Regeln. Sonderdruck aus: Der Geschichtsfreund. Bnd. 139, 1986.
- Leyden von, Rudolf: Der Nidwaldner Kaiserjass und seine Geschichte und Achermann, Hansjakob: Der Kaiserjass, wie er heute in Nidwalden gespielt wird.
Beides in: Beiträge zur Geschichte Nidwaldens. Heft 37, 1978. - Minois, Georges: Die Geschichte der Prophezeiungen. Orakel, Utopien, Prognosen. Düsseldorf, 2002.
(i) Kopp, Peter F.: Die drei ältesten Innerschweizer Kartenspiele und ihre Regeln. S.9.