Velolüüti
NM 2085
Das Objekt des Monats Juli zeigt die vielfältige Verbreitung eines prominenten Schweizer Geschichtsbildes. Auf schwarzem Grund ist die Silhouette des Winkelried-Denkmals in Stans zu sehen. Die dargestellte Szene ist dem Denkmal entnommen, die Figuren sind ohne Gesichter und bleiben schemenhaft. Durch die Bekanntheit des Denkmals ist die Abbildung dennoch problemlos als Winkelried erkennbar. Woher kommt das? Die einfache Velolüüti gibt nicht die Winkelriedsage wider, sondern eines der bekanntesten Bilder hiervon. Zu diesen zählen nicht nur gegenständliche Bilder, sondern auch geschichtliche Vorstellungen, die damit verbunden sind.
Wie bereits seit rund 500 Jahren wurde auch dieses Jahr am 9. Juli der Schlacht von Sempach gedacht. Die Tatsache, dass der Schlachtverlauf aufgrund der Quellen unklar und die Heldentat ein Mythos bleibt, spielen in diesen Erinnerungsritualen allerdings keine Rolle. Der nationale Gründungsmythos von den wehrhaften und freiheitsliebenden Eidgenossen, die sich gegen den verrufenen Adel wenden, wurde ab dem 14. Jahrhundert Teil des Selbstverständnisses der sich herausbildenden Eidgenossenschaft. Die Erzählung zur Schlacht von Sempach diente zu verschiedenen Momenten der Bedrohung eine Möglichkeit, Identitäten und Wertevorstellungen zu transportieren.
Die Abbildung des Stanser Winkelried-Denkmals auf einer Fahrradklingel – einem Gebrauchsgegenstand – ist ein Beispiel dafür, wie vielseitig die Bilder und damit die implizierten Werte dieser Heldengeschichte verbreitet werden können. Die Winkelried-Sage wird nicht nur durch Texte, Festakte, Gemälde oder Skulpturen in der Öffentlichkeit sichtbar, sondern auch auf privat genutzten Gegenständen wie Geschirr, Kalendern oder eben einer Velolüüti. Blicken wir auf das Winkelried-Denkmal: Dessen Kernaussage ist das Opfer eines Einzelnen für den Erfolg der Gemeinschaft und weist auf eine angeblich typisch schweizerische Tapferkeit hin. Gleichzeitig wird mit diesem «einer für alle – alle für einen»–Gedanken auch der Zusammenhalt der Eidgenossen beschworen. Dieses Motiv war zu verschiedenen Zeitpunkten der Schweizer Geschichte äusserst wichtig: Sei es im 16. Jahrhundert, als die Reformation die Bündnisse zwischen den eidgenössischen Orten stark belastete oder zur Zeit der beiden Weltkriege, als sich die Schweiz grossen Bedrohungslagen ausgesetzt sah. Damit das mit dem Nationalmythos verbundene Gedankengut eine individuelle, emotionale Reaktion hervorruft, muss dieses durch Bilder immer wieder neu aktiviert werden. Dies gilt in besonderem Masse für Krisenzeiten.
Die Klingel stammt vermutlich aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Marke Siluma, ein Hersteller von Velolampen, für Militärfahrräder verwendet. Das Objekt könnte ein Feriensouvenir aus Stans oder eine Art Werbegag sein. Vielleicht aber war das Winkelried-Denkmal schlicht ein beliebtes Dekor für allerlei Gegenstände. Auch der Tell aus Altdorf sowie viele markante Gebäude von Dörfern und Städten fanden als dekoratives Motiv für alle möglichen Dinge Verwendung: Postkarten und Briefmarken, Taschentücher oder Kalenderbilder. Von Siluma existiert eine ganze Reihe von Klingeln mit Bildern dieser Art. Die Velolüüti aus der Sammlung des Nidwaldner Museums gelangte im Jahr 1986 durch Schenkung in den Sammlungsbestand. Sie wurde im gleichen Jahr anlässlich der Ausstellung «Arnold Winkelried – Sein Denkmal in Stans» im Nidwaldner Museum gezeigt. Weitere in diesem Zusammenhang ausgestellte Gegenstände mit Winkelried-Motiv waren zum Beispiel ein Gebäckmodel, eine Kerze, Banknoten, ein Puzzle und ein Tabakpfeifenkopf.
Anhand dieser kurzen Liste wird offensichtlich, dass Motive, die der Befreiungstradition entstammen, nicht nur in politisch-feierlichem Rahmen verbreitet werden. Sie erschienen praktisch überall. Nichtsdestotrotz, diese Bilder losgelöst von einem Geschichtsbild und Nationalmythos zu betrachten, ist kaum möglich. Man könnte einwenden, dass ein solches Motiv nicht unbedingt mit Nationalbewusstsein und Geschichtskultur verbunden werden muss, sondern vielleicht einfach mit Stans, mit der Innerschweiz oder einer individuellen Erinnerung. Dennoch sind diese Geschichtsbilder nicht zuletzt aufgrund der eben beschriebenen massenhaften Vervielfältigung bis heute präsent.
Selbst wenn an der Stanser Winkelriedfeier von 2017 die Geselligkeit und nicht etwa eine Besinnung auf die Nationalgeschichte im Vordergrund steht, ist der Standort des Denkmals der Veranstaltungsort, und der Namensgeber der Feier die mythologische Figur Winkelried. Bis heute lassen sich Gemeindefeste, politische Haltungen sowie persönliche oder gemeinschaftliche Werte wunderbar an die Nationalmythen anknüpfen. Denn die Botschaft ihrer Bilder ist genauso bekannt, wie die Bilder selbst. Aus diesem Grund habe ich die Velolüüti als Beispiel für die Verbreitung des schweizerischen Nationalmythos gewählt. Es ist von Bedeutung, unseren gemeinschaftlichen Umgang mit der Geschichte des Landes immer wieder zu beobachten und zu hinterfragen.
Autorin: Alexandra Heini, 2017
Literatur
Peter Kaiser, «Befreiungstradition» in Historisches Lexikon der Schweiz online, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17474.php (Zugriff 19.7.2017)
Georg Kreis, «Was mit ‹Sempach› anfangen? Historisches Gedenken als Gestaltungs- und Erinnerungsaufgabe», in: Der Geschichtsfreund, Bd. 165, 2012, 115-133.
Guy P. Marchal, «Leopold und Winkelried – Die Helden von Sempach. Oder: Wie ein Geschichtsbild entstand», in: Arnold von Winkelried. Mythos und Wirklichkeit. Nidwaldner Beiträge zum Winkelriedjahr 1986, Stans 1986, S. 73-100.
Arnold Winkelried – Sein Denkmal in Stans, Ausst.-Kat. Nidwaldner Museum 7.6.– 17.8.1986, hrsg. von Nidwaldner Museum, Stans, 1986.