Tagebuchblätter von Paul Stöckli
NM 3843
Bilderschrift und Schriftenbilder
Am 12. September 1906 wurde der Stanser Künstler Paul Stöckli geboren. Anlässlich seines Geburtstages stelle ich in der Folge als Objekt des Monats eine Werkgruppe vor, die Stöcklis Auseinandersetzung mit Schrift, Material und Abstraktion aufnimmt. In den 1970er Jahren gestaltete der Künster eine Reihe von Collagen, die er als Tagebuchblätter betitelte. Sie bestehen aus Malereien und geklebten Elementen auf Zeitungspapier, die gedruckten Buchstaben treffen auf ein abstraktes Zeichensystem aus Strichen und Farbe. Diese Technik wandte Stöckli in den letzten Jahren seines Schaffens häufig an und gestaltete neben den Tagebuchblättern auch weitere Collagen in ähnlicher Weise. Die Zeitungen wurden gedreht, gerissen, gefärbt, bemalt und wieder zusammengesetzt. So kamen an die tausend Blätter zusammen. Immer wieder spielt Stöckli auch mit der Zeitung als Arbeitsmaterial und Informationsträger.
Zeitungen sind am Erscheinungstag hochaktuell, danach dienen sie im Grunde nur noch als Altpapier, um Abfalleimer auszulegen oder um einen schönen Stubentisch vor Farbspritzern zu schützen. Für seine Tagebuchblätter hat Paul Stöckli dieses allzeit verfügbare Material zugleich als Werkstoff und als Inhalt verwendet. Eine Arbeit begann er, legte sie weg, stapelte die Blätter aufeinander und nahm sie nach einer Weile wieder hervor. Diese wiederkehrende Tätigkeit hat grosse Ähnlichkeit mit dem Tagebuchschreiben, das Teil einer persönlichen Routine ist. An die Stelle eines handschriftlichen Textes treten bei Stöckli die Form und die Farbe: Mit Schriftbildern, Bildern aus Schrift und mit schriftähnlichen Linien lässt er die Grenzen zwischen dem verbalen Ausdruck und dem visuellen Eindruck verwischen. Der Zeitungstext ist zwar noch zu erkennen, doch tritt er gegenüber einer abstrakten Bildsprache in den Hintergrund – das Alphabet bietet eine Kulisse für neue Zeichen.
Die so entstandenen Arbeiten greifen die Doppeldeutigkeit von «Tagebuchblatt» auf. Ein Tagebuch meint regelmässige Aufzeichnungen eines Individuums. Oft geht es den Autoren darum, Erinnerungen, Eindrücke und Gedanken festzuhalten. Stöckli tut dies ebenso, jedoch nicht mit Worten, sondern mit seiner abstrakten Bildsprache und mit der Arbeit an den Blättern an sich. Ein Tagblatt, eine Zeitung, vermittelt seinen Lesern zeitnahe Neuigkeiten und Information. Sobald die nächste Ausgabe erscheint, ist die vorherige praktisch wertlos. Ein persönliches Journal bewahrt und wird gehütet, eine Zeitung wird zur Wegwerfware. Paul Stöcklis Tagebuchblätter nehmen diesen Widerspruch auf: er verwendet das scheinbar wertlos gewordene Papier als Grundlage zur Entwicklung einer eigenständigen Bildsprache. Um die Tagebuchblätter zu lesen, folgen die Betrachtenden den Farben und Formen wie einem Text, den sie oder er zwar als System erkennt, dessen Bedeutung aber verschlossen bleibt. So lässt sich das Abstrakte, Zufällige, das den Worten innewohnt, wieder neu begreifen. Besonders in einer Zeit, in der wir geradezu mit Text bombardiert werden, lohnt es sich, grundlegend über Worte, Bilder und Sprache nachzudenken. Paul Stöcklis Tagebuchblätter regen dazu an, sich mit Bilderschriften und Schriftenbildern auseinanderzusetzen und verweisen zugleich auf seine künstlerische Auseinandersetzung mit der Spannung von Ausdruck und Verstehen – entsteht gerade eine solche Spannung doch, da diese beiden Aspekte der Kommunikation zwar niemals unabhängig voneinander und doch nie deckungsgleich auftreten.
Alexandra Heini, 2017
Hinweis: Drei Tagebuchblätter von Paul Stöckli sind in der Dauerausstellung Nachhall und Witterung im Nidwaldner Museum Winkelriedhaus zu sehen.
Literatur
- Farbspuren. Paul Stöckli, hrsg. von Karl Bühlmann und der Kulturkommission der Gemeinde Stansstad, Stans 2001.
- www.paulstöckli.ch