Spielzeugpuppe Klosterfrau
NM 8896
Die kullernden blauen Glasaugen im Porzellankopf, die rosigen Backen, stupsnasig und mit kleinem, roten Mund – das perfekte Kindergesicht. Die Puppe wird Mitte des 19. Jahrhunderts zum bevorzugten und populärsten bürgerlichen Spielzeug für Mädchen, ein verkleinertes Spiegelbild der Menschen im Kindesalter. Immer mehr wird sie idealisiert, «menschliche Körperbilder und Körperideale spiegeln sich in Puppenkörpern» [i]. Die Puppe wird so eine «Mitteilung» der Gesellschaft über sich selbst: Denn die Geschichte der Puppen ist eng verbunden mit der Geschichte der Menschheit. In ihrer Ähnlichkeit bildet der Mensch sich selbst ab – oder eben eine Idealvorstellung davon. Die Ausgestaltung, die Materialien und die Bekleidung der Puppen widerspiegeln sowohl modische Strömungen wie die technischen Möglichkeiten ihrer Entstehungszeit.
Die ältesten Puppen sind bereits 2000 v. Chr. belegt. Sie wurden als Totenbeigaben in Gräber gelegt und erfüllten eher kultische und magische Zwecke, als dass sie Kinderspielzeug waren. Diesen menschlich anmutenden religiösen Figuren wurde ein beseelter Charakter zugeschrieben und gerade deshalb waren sie als Kinderspielzeug ungeeignet. Man glaubte, dass von ihnen Zauberkräfte ausgehen konnten. Die Geschichte der europäischen Spielpuppe beginnt erst im 13. und 14. Jahrhundert. Diese Puppen waren vorwiegend aus Holz gefertigt, einige hatten kompliziertere, detailliert ausgearbeitete und bewegliche Glieder, andere waren aus einem einzigen Holzklotz gefertigt, bei dem nur der Kopf ausgearbeitet war. Ab dem 17. Jahrhundert etablierten sich bekleidete Spielpuppen. Doch auch zu dieser Zeit galt die Puppe nicht ausschliesslich als Kinderspielzeug. Vielmehr waren diese oft kostbar gekleidet und hatte die Funktion einer Botschafterin der Mode: Mit den neuesten Kleidern en miniature wurden so die aktuellen Trends und Neuheiten an den herrschaftlichen Höfen Europas verbreitet. Damit verändert sich auch die gesellschaftliche Bedeutung der Puppen grundsätzlich. Sie spiegeln die sozialen Zuordnungen und die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gesellschaftsschichten wider: «Es gab sowohl einfache, als Massenware vorhandene Tonpuppen für Bauern und Handwerker als auch die als Einzelstücke angefertigten höfischen Puppen für die Töchter des Adels.»[ii] Die kostbaren Puppen erfüllten nicht nur eine repräsentative Funktion, die den Status ihrer Besitzerin anzeigte, sondern erfüllten zunehmend pädagogische Aufgaben. Die Mädchen wurden auf ihre zukünftige Rolle als Hofdame vorbereitet, die Jungen durch das Spielen mit Ritterfiguren auf die künftigen Aufgaben als Herr am Hof.
Betrachten wir die Geschichte und Entwicklung der Puppe, lassen sich zwei grundlegende Entwicklungen feststellen: Die Puppe wurde populärer, die verfügbaren Materialen und die wachsenden technischen Möglichkeiten erlaubten einer immer breiteren Masse den Zugang zu Puppen. Auf der funktionalen Ebene entwickelt sich die Puppe vom Unterhaltungsgegenstand für Erwachsene hin zu einem Spielzeug für Kinder. Die darin enthaltene Tendenz zum Pädagogischen lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass sich der Blick der Gesellschaft auf die Kinder, und die Kindheit generell, gewandelt hatte. Die Erkenntnisse von Pädagogen wie Rousseau oder Pestalozzi – letzterer hatte auch in Nidwalden im Kinderheim gewirkt – führten zu einem neuen Verständnis von Kindheit, wodurch Kinder «nicht mehr als kleine Erwachsene, sondern als Menschen im Werden»[iii] betrachtet wurden.
Im 19. Jahrhundert verstärkte sich dieser erzieherische Charakter der Puppe mit den in Buchform erschienenen Erzählungen rund um die Puppe Wunderhold. Sie läutete schliesslich das goldene Puppenzeitalter ein: «Das Schicksal dieser Ich-Erzählerin und Memoiren schreibenden Puppe (faszinierte) ganze Mädchengenerationen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein»[iv].Einerseits repräsentierte die Puppe Wunderhold die der Zeit entsprechenden und für notwendig gehaltene geschlechterspezifische Disziplinierung, indem sie die klassisch-weiblichen Tugenden der bürgerlichen Frau vertrat, andererseits hatte sie durchaus kritische Züge, die ihren Puppenmüttern gesellschaftliche Differenzen näherbringen und sie in ihrer autonomen Selbstentwicklung unterstützen sollten. Ihre zahlreichen Nachfolgerinnen – die Puppenbücher hatten weitläufig grossen Erfolg – griffen immer wieder zeitgenössische Diskussionen über die Rollenverständnisse von Frauen und Mädchen, ihre Bildungsmöglichkeiten oder ihre Rechte auf.[v] Die Puppe als Spielgefährtin, Freundin, Doppelgängerin oder Verbündete war demnach über ihre unterhaltende Funktion hinaus auch Trägerin ganz bestimmter gesellschaftlicher Vorstellungen einer Zeit, mit denen sich die Kinder spielerisch auseinandersetzten. So bleibt die Puppe in der menschlichen Wahrnehmung «mehr als ein Ding und irgendwie auch immer mehr als ‚nur‘ eine Puppe»[vi].
Die Klosterpuppe aus der Sammlung des Nidwaldner Museums kann vor diesem Hintergrund sehr unterschiedlich eingeschätzt werden. Leider sind bei diesem Objekt kaum Informationen überliefert, die Herkunft oder eine mögliche Vorbesitzerin bleiben unbekannt.
Ihr Kopf ist aus Porzellan, die beweglichen Äuglein aus Glas gefertigt, der Körper, die Hände und Beine aus Pappmaché und Holz. Es handelt sich also kaum um eine besonders wertvolle Puppe – darauf deutet auch die einfache Kleidung hin, die vermutlich selbstgenäht ist. Schaut man sich die Puppe etwas näher an, hebt ihr den Rock, dann kommen unter dem Klostergewand ganz einfache, braune Kleider zum Vorschein. Vielleicht war die Klosterfrauen-Puppe in ihrem früheren Leben eine Bäuerin? Das neue Gewand spiegelt im Sinne der vorhergehenden Erläuterungen möglicherweise das Ziel eines Mädchens, das gerne ins Kloster eintreten wollte und seinen Wunsch mit ihrer Puppe geteilt hatte: Sie kleidete ihre Puppe als Klosterfrau ein, bevor sie sich selbst endgültig dazu entschloss.
Autorin: Magdalena Bucher, 2016
Quellen
- Ernst, Hannelore und Mathias: Puppen. Ein Überblick über die Entwicklungsgeschichte und die wichtigsten internationalen Marken. München 1992.
- Fooken, Insa: Puppen – heimliche Menschenflüsterer. Ihre Widerentdeckung als Spielzeug und Kulturgut. Göttingen 2012.
- Fooken, Insa: Mehr als ein Ding: Vom seelischen Mehrwert der Puppen. In: Fooken, Insa und Mikota, Jana (Hg.): Puppen. Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen. Göttingen 2014. S.43-54.
- Fritz, Jürgen: Spiele als Spiegel ihrer Zeit: Glücksspiele, Tarot, Puppen, Videospiele. Mainz 1992.
- Mattenklott, Gundel: Heimlich-unheimliche Puppe: Ein Kapitel zur Beseelung der Dinge. In: Fooken, Insa und Mikota, Jana (Hg.): Puppen. Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen. Göttingen 2014. S.29-42.
- Meier, Frank: Mit Kind und Kegel. Kindheit und Familie im Wandel der Geschichte. Ostfildern 2006.
[i] Fritz, Jürgen: Spiele als Spiegel ihrer Zeit. S. 7.
[ii] Fooken, Insa: Puppen – heimliche Menschenflüsterer. S. 69.
[iii] Fooken, Insa: Puppen – heimliche Menschenflüsterer. S. 72.
[iv] Fooken, Insa: Puppen – heimliche Menschenflüsterer. S. 15.
[v] vgl. Fooken, Insa: Puppen – heimliche Menschenflüsterer. S. 16ff.
[vi] Fooken, Insa und Jana Mikota: Puppen. Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen. S. 44.