Reissäcklein
NM 9869
Von Reisläufern und Trachten: das Räisseckli
Sommerzeit heisst Ferienzeit. Viele zieht es dann in die Ferne, um fremde Länder und Regionen zu erkunden. Immer mit dabei beim Reisen ist der Koffer oder der Rucksack, in dem wir unser Hab und Gut transportieren. Auch früher schon begaben sich die Menschen aus verschiedensten Gründen auf Reisen, oft verstauten sie ihr Gepäck in schweren und eher unhandlichen Kisten. Von einem historischen Gepäckstück der anderen Art soll hier die Rede sein: Das Reissäcklein erfuhr im Laufe seiner Geschichte eine spannende Umwandlung vom Reisegepäck hin zu einem typischen Bestandteil der Nidwaldner Tracht.
Der in Mundart «Räisseckli» genannte Beutel wurde – ursprünglich in grösserer Form – unter anderem auf Reisen oder auf den Markt mitgenommen. Er bot Platz für persönliche Habseligkeiten sowie für den notwendigen Reiseproviant. Das Säckli wurde aber auch im Kriegsdienst mit sich geführt. Anlass für letzteren boten die vielen Kriege, die im ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit in Europa ausgefochten wurden. Die Eidgenossenschaft spielte dabei keine geringe Rolle, stellte sie doch über Jahrhunderte hinweg zahlreiche Söldner für die europäischen Mächte. Anfänglich stellten sich vor allem Einzelpersonen oder Kleingruppen aus freiem Willen mittels Privatverträgen unter die Autorität und Rechtsherrschaft eines fremden Herrschers. Diese Männer wurden als Reisläufer bezeichnet. Der Begriff Reisläufer stammt vom mittelhochdeutschen «die reis louffen» ab, das heisst «die, die in den Krieg ziehen». Das heutige Wort reisen hatte also ursprünglich eine vielmehr martialische Bedeutung und erhielt erst später seinen jetzigen Sinn.
Man geht davon aus, dass zwischen dem 14.-19. Jahrhundert eineinhalb bis zwei Millionen Schweizer als Söldner in fremden Diensten standen, etwa für Spanien und Holland, vor allem aber für Frankreich. Zu den ersten, die sich auf diese Weise verdingten, gehörten die Innerschweizer. Die Gründe dafür sind vielseitig: Wohl gehörte eine gewisse Portion Abenteuerlust und Neugierde dazu; für viele dürften es aber schlicht die wirtschaftliche Not und die aussichtslose Lage zuhause gewesen sein, die sie in den Kriegsdienst zwangen. Der Solddienst war zudem über lange Zeit finanziell attraktiver als die gewöhnliche Lohnarbeit. Die Eidgenossen erarbeiteten sich über die Jahre den Ruf von unerschrockenen, wagemutigen und oft siegreichen Soldaten, so dass das Halten einer Schweizer Kompanie an den europäischen Höfen beinahe zum Prestige wurde. Dies machte sich auch die eidgenössische Politik zunutze, die ab dem 16. Jahrhundert das Reisläufertum, das heisst das private Anwerben von Einzelpersonen oder Gruppen durch fremde Mächte, verbot, und einen obrigkeitlich bewilligten Solddienst einführte. Dieser kam finanziell auch den eidgenössischen und zugewandten Orten zugute und erlaubte es zudem, bei Bedarf die Truppen ins eigene Land zurückzuholen. Das Söldnerwesen wurde schliesslich zu einer der wichtigsten Einnahmequellen der Eidgenossenschaft. Doch auch die negativen Auswirkungen blieben nicht aus: Durch die vielen Männer, die in fremden Diensten umkamen, fehlten zuhause die Arbeiter. Viele von jenen, die zurückkehrten, waren invalid oder traumatisiert. Vor allem die Städte standen durch die zahlreichen Krüppel, Witwen und Waisen, die es zu versorgen galt, vor ganz neuen Problemen. Es gab deshalb bereits früh kritische Stimmen gegen das Reislaufen, am prominentesten vom späteren Heiligen Niklaus von Flüe und vom Reformator Huldrych Zwingli.
Dennoch wurde das Söldnerwesen bis ins 19. Jahrhundert aufrechterhalten. Die Rückkehrer brachten dabei immer auch kulturelle Inputs von ihren Feldzügen in Italien oder Frankreich zurück. Dies machte sich nicht nur in der bildenden Kunst bemerkbar, sondern auch in der zeitgenössischen Mode. Die neuen Kleidungsvorlieben setzten sich zunächst in der städtischen Oberschicht durch, erst später auch auf dem Land. Als Überbringer von diesen, kleideten sich auch die Reisläufer äusserst auffällig und provokant, was von den Zeitgenossen bisweilen bissig kommentiert, wohl aber auch bewundert wurde. Beeinflusst von der fremden Mode und der davon abgeleiteten städtischen Kleidung entwickelten sich in der ganzen Schweiz ab dem späten 17. Jahrhundert regionaltypische Trachten. In Nidwalden, aber zum Beispiel auch in Appenzell gehört schon früh auch das «Räisseckli» als unverzichtbares Merkmal zum festen Bestandteil der Frauen- und Männertracht. Es besteht in Nidwalden typischerweise aus einem leuchtend grünen Baumwollstoff mit roten Wollquasten und einer schwarzen Zugkordel als Halter. Beim Objekt aus der Sammlung des Nidwaldner Museums scheint man es nicht so genau genommen zu haben, weist es doch schwarze Quasten und einen ins Bläuliche verlaufenden grünen Stoff auf. Ob das «Räisseckli» tatsächlich von der Gewandung der eidgenössischen Reisläufer oder doch über einen anderen Weg zur Nidwaldner Tracht gekommen ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Andere Nidwaldner Trachtenteile wie die «Gellerchetti» wurden wohl von Söldnern eingeführt, die im Kriegsdienst in der Fremde die filigranen Arbeiten kennenlernten. Es ist ausserdem unbestreitbar, dass der Reisläufer, der in den Krieg zog, im Wort «Räisseckli» noch drinsteckt, und dass er als Übermittler französischer und italienischer Kultur auch die hiesige Trachtenmode mitprägte. Heute müssen sich die Schweizer Männer und Burschen nicht mehr als Söldner verdingen; das Reissäcklein als Bestandteil der Tracht erinnert aber bis zu diesem Tag eindrücklich an diese vergangenen Zeiten.
Autorin: Bettina Thommen, Juli 2019