Reisekoffer
NM 5334
Sommerzeit ist Reisezeit: Ob Badeferien am Meer, Wandern in den Bergen, eine Kulturreise in eine Stadt, Abenteuer beim Trampen – für viele Menschen aus unseren Kulturkreisen gehört das Reisen im Sommer zum Jahresprogramm wie das Feiern um Neujahr. Im Vordergrund steht beim Tourismus die Entdeckung: die Entdeckung von unbekannter Kultur, von aussergewöhnlicher Natur, Architektur, vielleicht auch die Entdeckung einer neuen Facette seiner selbst, die im Kontakt mit dem Neuen zum Vorschein kommt.
Der Urlaub ist eine Abkehr vom Alltag, es geht darum etwas zu erfahren, was eben nicht alltäglich ist oder wofür im Alltag keine Zeit bleibt. Und doch können die Strukturen des Alltäglichen nicht einfach zurückgelassen werden – vielfach nämlich werden ganz alltägliche Dinge im Urlaub verstärkt praktiziert. Man nimmt sich mehr Zeit fürs Essen, für die Körperpflege, für Einkäufe oder einfach für sich selbst. Selbstverständlich betrifft dies nicht alle gleichermassen, viele Unterschiede in der Art und Weise des Ferienmachens liegen in der Herkunft, dem sozialen Milieu, dem Bildungsstand, dem Geschlecht und Alter. Die einen mögen es lieber abenteuerlich, erkunden neugierig immer andere Teile der Erde, andere besuchen jahrzehntelang denselben Ort und richten sich dort heimisch ein. Nicht nur die Destinationen und Erlebniswelten sind vielzählig, auch die Möglichkeiten der Fortbewegung. Ob man die Reise nun mit dem Kreuzfahrtschiff, mit Flugzeug oder Zug, ob mit Wohnmobil oder Kleinwagen, Velo oder mit den eigenen Füsse antritt – wer sich Urlaub leisten kann, hat die freie Wahl. Per Internet, Reisebüro oder Katalog kann jeder sich seine Reise so zusammenstellen, wie es ihm am meisten entspricht. Heutzutage nennt man das: Individualtourismus.
Der aus dem 19. Jahrhundert stammende Reisekoffer aus der Sammlung des Nidwaldner Museums erzählt uns seine eigene und den Tourismus einer bestimmten Zeit betreffende Geschichte. Der Besitzer war ein wohlhabender Mensch auf Reisen. Denn Reisen per Kutsche oder Pferd – wer würde so einen Koffer schon über Stock und Stein tragen können – war bis ins späte 18. Jahrhundert nur den oberen Schichten vergönnt. Die unteren Schichten waren zu Fuss unterwegs; es war ihre einzige Fortbewegungsmöglichkeit. Die Reise zu Pferd oder in der Kutsche blieb nicht nur aus finanziellen Gründen der bürgerlichen Oberschicht und dem Adel vorbehalten – die Reise in der Kutsche oder mit dem Pferd war kostspielig – sondern auch aus gesellschaftlichen: Die Höhe des Pferderückens und der Radachse drückten symbolisch die Position in der gesellschaftlichen Hierarchie aus.
Die ersten zeitlich beschränkten Reisen (Nomadentum und dauerhafte Migration ausgeschlossen), die wohl den Ursprung für die heutige Reiselust darstellen, sind ab dem Mittelalter nachgewiesen. Einerseits in der religiös motivierten Pilgerreise, andererseits im Arbeitsalltag, beispielsweise zum Zweck der Ausbildung (Lehr- und Wanderjahre in den Handwerkszünften) oder zur Verdienstsuche (z.B. als Tagelöhner). Ganz anders waren hier die Beweggründe, es stand natürlich keineswegs freizeitliches Vergnügen im Vordergrund der Reise, sondern vielmehr die Pflicht. Die Reise war beschwerlich und oft auch gefährlich. In diesem historischen und sozialen Kontext ist sie stets eine zweckgerichtete Bewegung, eine Bewegung zwischen zwei Orten, und die Weite des Raumes, der zwischen den Orten liegt, ist nur beschwerlich. Dies war auch für die Oberschicht nicht viel anders und änderte sich erst um 1800 – geprägt durch philosophische Zwecksbestimmungen der Spätaufklärung. Das Wandern wird zum Selbstzweck und zum Mittel, um sinnliche Erfahrungen zu sammeln und neue Perspektiven zu gewinnen. Die Erfahrung der Weite und die Vielfalt von Natur und Gesellschaft sowie die Selbstfindung in der Fremde wurde als wichtigste Schule der bürgerlichen Charakterbildung angesehen. Die Brüder Grimm haben diese unaufhaltsame Entwicklung 1854 wie folgt zusammengefasst: «erst die neuere zeit kennt wandern als das frohe durchstreifen der natur, um körper und geist zu erfrischen, nachdem durch die romantik und die turnerei die wanderfreude entdeckt war.»[i] Die Gründung zahlreicher Alpenvereine, Reisegruppen, die Etablierung von Ausflugszielen, Kurorten usw. hat zu einer Verbreitung des Wanderns als Freizeitbeschäftigung beigetragen. Vieles davon ähnelt dem heutigen Wandern und Reisen, ist aber vorerst noch kein populäres Vergnügen, sondern eine exklusiv bürgerliche Kulturübung. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wird das Wandern als Erholungs- und Freizeitmuster allgemein verbreitet.
Bis im 19. Jahrhundert das Eisenbahnzeitalter anbricht, ist die Raum- und Zeiterfahrung im Allgemeinen an eine mehr oder weniger mühsame zweckgebundene Fortbewegung zu Fuss, Pferd oder Kutsche geknüpft. Der Koffer aus der Sammlung des Nidwaldner Museums wurde mit dem Zug transportiert – die Aufkleber auf dem Koffer weisen auf eine Zugreise von Villmergen über Rotkreuz und Luzern nach Stans hin. Da das Eisenbahnnetz in der Schweiz erst in der zweiten Hälfte des 1900 Jahrhunderts landesweit ausgebaut wurde, liegt die Vermutung nahe, dass diese Reise um die Jahrhundertwende angetreten wurde. Möglicherweise war der Besitzer des Koffers geschäftlich unterwegs. Villmergen liegt im Kanton Aargau und hatte sich Mitte des 18. Jahrhunderts vom Bauerndorf zum grösseren Industriedorf gewandelt. Obwohl die Eisenbahn allen Menschen das Reisen massgeblich erleichterte, waren es vor allem die unteren Schichten, denen die Eisenbahn neue Möglichkeiten eröffnete. Sie konnten nun in den Dritt- und Viert-Klasse-Wagons weite Strecken zurücklegen. Selbst wenn eine Reise von Luzern nach Mailand mit dem Zug noch rund 31 Stunden dauerte (heute sind es knapp 4 Stunden), war das gegenüber einem Fussmarsch durch Wald und Wiese, schlecht gepflegte Wege und gefährliche Passübergänge ein markanter Fortschritt.
Autorin: Magdalena Bucher, 2015
Quellen
- Bausinger, Hermann: Grenzenlos… Ein Blick auf den modernen Tourismus. S.343-353.
- Beyrer, Klaus: Im Coupé. Vom Zeitvertrieb der Kutschenfahrt.. S.137-146.
- Herbers, Klaus: Alte Wege. Unterwegs zu heiligen Stätten. Pilgerfahrten S.23-31.
- Kaschuba, Wolfgang: Die Fussreise. Von der Arbeitswanderung zur bürgerlichen Bildungsbewegung. S.165-173. Alle in: Bausinger, Hermann, Klaus Beyrer, Gottfried Korff: Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. München 1991.
- Prein, Philipp: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen. Berlin 2003.
- Roth, Ralf: Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800-1914. Ostfildern 2005.
Stagl, Justin: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800. Wien u.a. 2002.
[i] Kaschuba, Wolfgang: Die Fussreise. S.173.