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Melchior Lussi, «Reissbuch gen Hierusalem»

NM 7833

Wenn man die Chance hat, das Depot eines Museums zu besuchen, ist man von der Vielfalt an Objekten erstaunt, die dort wie kleine Schätze verborgen liegen. Sie werden in der Regel in Kisten oder auf Regalen aufbewahrt, sorgfältig inventarisiert und gekennzeichnet. Jedes Objekt nimmt seinen eigenen Platz ein. Am Anfang fällt es dem Besuchenden schwer, die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Objekten zu sehen. Bei näherer Betrachtung eröffnen sich jedoch zahlreiche Verbindungen: Viele Objekte teilen gemeinsame Geschichten, die rekonstruiert werden können, wenn man sich auf die Suche nach Indizien begibt. Dies ist der Fall des Objekts dieses Monats: der Pilgerbericht des Ritters Melchior Lussi (1529–1606).

«Reissbuch gen Hierusalem». Der Pilgerbericht des Ritters Melchior Lussi

Melchior Lussi gilt als einer der bedeutendsten Unterwaldner Staatsmänner des 16. Jahrhunderts und als eine der eindrücklichsten Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte in politischer, diplomatischer sowie religiöser Hinsicht. Er wurde 1529 in Stans geboren und 1561 erstmals Landammann von Nidwalden. Bis 1595 bekleidete er das Amt insgesamt elfmal. Im Rahmen seiner politischen Tätigkeit nahm Lussi 1562/63 als Gesandter der katholischen Orte am Konzil von Trient teil. Darauf folgten zahlreiche politische Missionen und Gesandtschaften nach Madrid, Paris, Florenz, Savoyen und in den Kirchenstaat. Als Vertreter der Alten Eidgenossenschaft bestimmte er nicht nur die internationalen politischen Gegebenheiten massgeblich mit, sondern auch die innere Politik Nidwaldens: 1593 wurde er erster Landeshauptmann von Ob- und Nidwalden. Ein Schlaganfall zwang ihn 1596, sich aus der Politik zurückzuziehen. Er starb 1606 in Stans.

Melchior Lussi engagierte sich auch leidenschaftlich für die Verteidigung des katholischen Glaubens. Die Tessiner Bildungsjahre (1544–1551), als Lussi unter anderem als amtlicher Dolmetscher in Locarno tätig war, erwiesen sich als besonders wichtig für ihn. Seine Begabung in der italienischen Sprache erlaubte es ihm später, als Eidgenössischer Gesandter mit einigen der damals bedeutendsten politisch-religiösen Persönlichkeiten Oberitaliens Kontakt aufzunehmen. Darunter ist die Freundschaft mit Karl Borromäus, dem späteren Erzbischof von Mailand und überzeugten Vertreter der Gegenreformation, besonders hervorzuheben.

Auf Bestreben Lussis siedelten sich 1582 die Kapuziner in Nidwalden an, denen er gleich selbst ein Kloster baute. Sein Glaube trieb Lussi dazu, Reisen zu den bedeutendsten Pilgerorten der Christenheit zu unternehmen: 1583 begab er sich nach Jerusalem, 1590 nach Santiago de Compostela. Während der Pilgerfahrt ins Heilige Land wurde Lussi zum Ritter des Ordens des Heiligen Grabes geschlagen.[1] Davon erzählt der Stanser Pfarrer und Historiker Joseph Maria Businger: «Im Jahre 1583 kam Lussi die fromme Lust an, nach der Sitte damaliger Zeiten, eine Pilgrimmsreise zum Grabe unsers Herrn nach Palästina vorzunehmen. Er trat in zahlreicher Gesellschaft und Begleitung diese fromme Fahrt an und ward in Jerusalem zum Ritter des heil. Grabes geschlagen».[2]

Zu seiner Pilgerreise nach Jerusalem, die er mit anderen Pilgern und einigen Landsleuten aus Uri und Luzern über Venedig unternahm, veröffentlichte Lussi einen Bericht, der die einzige zusammenhängende, im eigentlichen Sinne literarische Arbeit in der gesamten Textproduktion des Ritters – die in erster Linie aus Akten und Briefen besteht – darstellt.[3] Das Büchlein mit dem Titel Reissbuch gen Hierusalem umfasst 113 Seiten und wurde 1584 verfasst, jedoch erst 1590 bei der Offizin von Abraham Gemperlin in Freiburg im Üechtland gedruckt. Das in einen grün geblümten, leichten Karton eingebundene Exemplar im Besitz des Nidwaldner Museums stammt aus dem Bibliotheksbestand des Kapuzinerklosters Stans, wie dem Stempel auf dem Titelblatt zu entnehmen ist («Bibliotheca Capucinorum Stantii»).

Im Bericht schildert Lussi die verschiedenen Etappen seiner Wallfahrt. Besonders bemerkenswert und ausführlich sind die Beschreibungen der Kirche vom Heiligen Grab (Kapitel 6), der Stadt Jerusalem (Kapitel 7) sowie der Stadt Bethlehem und der heiligen Stätten und Orte auf dem Wege nach Jerusalem (Kapitel 10). Im sechsten Kapitel gibt Lussi z. B. den Rundgang durch die Grabeskirche detailliert wieder. Er beschreibt zuerst den Kern des Kirchengebäudes, das Heilige Grab, dann systematisch die weiteren christlichen Heiligtümer – den Salbstein, den Golgotha-Felsen, die Helena-Kapelle usw.[4] Lussis Bericht ist so präzise, dass man die diversen Stationen seines Rundganges auch auf dem heutigen Grundriss der Jerusalemer Grabeskirche leicht erkennen kann. Als Beispiel gilt hier die wörtlich zitierte Beschreibung des Salbsteins, der eigentlichen, marmornen Grabkapelle (die sog. Ädikula) sowie der mit Säulen ausgestatteten Rotunde, die das Grab überwölbt:

«Zum ersten / haben wir […] das allerheiligste Grab unsers Heylands und Seligmachers Jesu Christi besucht / welches wir funden unden in dem Münster oder Tempel / mit solchen gestallten. / Erstlich / so ist vornenher daran ein Capell gebawen / und darinn ein vierecketer Stein (scil. der Salbstein) / darauff der Engel gesessen / der zu den Frawen / so nach der Urstende (scil. Auferstehung Christi) morgens früh zu dem Grab kommen / den Herren (scil. Christi) zusalben / gesagt: Nemmet war / das ist das orth / da sie ihn hingelegt / aber er ist erstanden / und ist nit hie / etc. Daselbst hangend fünffzehen brünnende Ampeln. Der Eingang oder Thürlein in das H. Grab ist geviert und so nider / dass der Mensch so hinein wil / sich vast bucken muoss. So man nun hinein kompt / steht das allerheiligste Grab zu der rechten Hand am Eingang / dareyn der Herr in sein Begräbnuss gelegt worden […] Diss Capellin / so das Grab begreifft / ist von ganz schönem weissem Marmor gemacht und gewelbt / oben bey drey Ellen breit und lang / auff dem Gewölb / uber die mitte / ist ein schöner Tabernacul / welcher auff zwölf schönen weisser Marmorsteinern Säulen stehet. Gleich und alle grade gegen dem H. Grab hinauff / ist das Münster offen / hat ein gross rund loch / ausserhalben ist es auch mit Marmor besetzt / und sonst alles so schön und herrlich / dass es einen jeden rechten Christen nit allein zu billicher und schuldiger andacht / sonder auch zu verwunderung bewegt / nach den Worten des Propheten […]: „Sepulchrum eius erit gloriosum“, das ist / Sein Grab wird herrlich oder lobwürdig seyn.» (S. 12–13)

Melchior Lussi stellt nicht nur die architektonischen Bauteile im Detail vor, sondern hebt auch die von den Pilgern empfundenen Gefühle hervor – die Verwunderung vor dem Grab und der Rotunde – und preist die Schönheit sowie die Pracht des Kirchenkomplexes, immer in Anlehnung an seinen tiefen Glauben.

Lussis Erfahrungsbericht ordnet sich in die Reihe der traditionellen Pilgerberichte und Pilgererfahrungen ein. Durch die Pilgerfahrt hatte man die Chance, die wichtigsten Stätten des Lebens und des Todes Christi persönlich zu besuchen und dadurch Gott symbolisch näher zu kommen. Die Pilgerberichte bewiesen diese „Imitatio Christi“ (Nachahmung von Christus) und dienten zugleich als eine Art „Reiseführer“ – man kann treffend von „Pilgerführern“ sprechen. Der Heiligen Stadt kam ausserdem ein Privileg zu, das man an keinem anderen Pilgerort finden konnte: der Ritterschlag vom Heiligen Grab. Der Kandidat, normalerweise aus adligem Geschlecht und ein Gläubiger, der sich als katholischer Christ besonders ausgezeichnet hatte, konnte ausschliesslich während einer Wallfahrt in Palästina, und zwar am Heiligen Grab in Jerusalem, zum Ritter geschlagen werden. Das Oberhaupt eines Franziskaner- oder Kapuzinerkonvents vollzog in der Regel die Zeremonie.[5] 1583 wurde Ritter Melchior Lussi diese Ehre zuteil. Möglicherweise nahm er dabei einen kleinen Anhänger in Form eines Jerusalemkreuzes, das Symbol des Ritterordens des Heiligen Grabes, mit sich, der ebenso in der Sammlung des Nidwaldner Museums aufbewahrt ist (NM 782).

«Ich kam, sah und berührte»: Die Pilgerfahrt des Melchior Lussi im Spiegel des neuzeitlichen Pilgerwesens

In seinem Bericht erwähnt Melchior Lussi noch ein weiteres für Pilgerreisen typisches Mitbringsel. Im zehnten Kapitel seines Pilgerbuchs, das der Stadt Bethlehem und Umgebung gewidmet ist, schreibt Lussi:

«Item / auff halber Strass zwischen Bethlehem und Hierusalem zeigt man uns an der Strass einen alten holen Terebinth-Baum / under welchem Maria die würdige Mutter Gottes / wann sie von oder gen Hierusalem gangen offtermalen geruohet. Und ist diser Baum auss sonderlicher Schikung Gottes bissher also beschirmpt worden / dass die / so disen wollen verwüsten / umbhawen / oder sonst fröfenlich Händ daranlegen / gählingen sterben. Es pflegen auch etwann andächtige Pilger umb gedechtnuss der sachen und unser lieben Frawen Ehr willen sich zu bemühen / dass sie Pater Noster auss Holtz dises Baums bekommen / welches ich meins theils auch gethan / und ein solch Pater Noster bekommen / welches mir so lieb und angenem / als ein köstlich Kleinot». (S. 40. Kursiv hinzugefügt)

An dieser Stelle weist Lussi auf die im 16. und 17. Jahrhundert übliche Praxis der Pilgerandenken hin, die ihren Ursprung aber schon bei den ersten Wallfahrten haben. Während ihres Aufenthalts im Heiligen Land und von anderen Wallfahrtsorten nahmen Pilger normalerweise kleine Erinnerungszeichen mit. In fast allen Reiseberichten sind Kleinobjekte wie Paternoster oder Rosenkränze erwähnt. Oft verschaffte man sich selbst kleine Reliquien: Pilger nahmen Dornen, Steine und Holzstücke aus den heiligen Stätten mit nach Hause (unter anderem aus den Kirchen Jerusalems, vom Ölberg, aus Zion, Bethlehem, vom Tal Josaphat und von Jericho) sowie kleine Handwerkobjekte (neben den obengenannten Paternostern und Rosenkränzen findet man Kerzen, Agnus Dei und Krüglein aus Zedernholz). Diese kleinen Pilgerandenken dienten auch als Geschenk für die Angehörigen der Pilger, die in der Heimat warteten. Grund dafür war der Glaube daran, dass solche Objekte die Anteilnahme am Heilsgeschehen und die in Palästina erlebte Heilserfahrung durch ihre physische, materielle Präsenz zu verlängern erlaubten. Dies belegen auch die berühmten Worte des Pilgers Jacopo da Verona: „Ich kam, sah und berührte“.[6]

Dem Textabschnitt ist zu entnehmen, dass Lussi selbst einen Rosenkranz aus der Terebinthe von Bethlehem in die Heimat mitgenommen hat. Das von ihm gegründete Kapuzinerkloster in Stans verwahrte einen Rosenkranz, der einst Lussi gehört haben soll. Das sogenannte „gross Bätti“ ist mit verschiedenen Edelsteinen wie Amethysten, Glasperlen, Holzperlen, Edelkorallen oder Perlmuttstücken dekoriert und heute ebenso Teil der Sammlung des Nidwaldner Museums (NM 7832). Obwohl nicht eindeutig auszuschliessen ist, dass der Rosenkranz einst im Besitz Melchior Lussis war, wird heute dennoch davon ausgegangen, dass es sich um eine Amulettkette aus dem 18. Jahrhundert mit teils älteren Teilen handelt.

Nichtsdestotrotz erweist sich Melchior Lussis Reisebuch nicht nur als wertvolles literarisches Produkt, sondern auch als Schlüssel, mit dem man verborgene Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Objekten aus der Sammlung des Nidwaldner Museums entdecken kann.

Autorin: Martina Albertini, 2016

Überarbeitet: Dominic Schmid, 2024

 

[1] Feller, Ritter Melchior Lussy; Historischer Verein von Nidwalden, Gedenkschrift zur Einweihung, S. 5-12; Hodel, Lussi [Lussy] Melchior.

[2] Businger, Die Geschichten. S. 147.

[3] Wymann, Bethlehem, S. 135.

[4] Für den heutigen Grundriss der Grabeskirche mit Legende siehe: Reese, Sarah: The Church of the Holy Sepulchre, Personal Portfolio of the Pennsylvania State University. URL: http://sites.psu.edu/sarahreeseeportfolioeng202a/wp-content/uploads/sites/3466/2013/05/c11.png (Stand: 29.09.2016).

[5] Ganz-Blättler, Jerusalem als Pilgerziel, S. 21–22; S. 26.

[6] Ganz-Blättler, Jerusalem als Pilgerziel, S. 22; Historischer Verein von Nidwalden, Gedenkschrift zur Einweihung des Denkmals für Ritter Melchior Lussy, S. 26–27.

Literatur

  • Businger, Joseph Maria: Die Geschichten des Volkes von Unterwalden, ob und nid dem Wald, Luzern 1827–1828, 2 Bde.
  • Feller, Richard: Ritter Melchior Lussy von Unterwalden. Seine Beziehungen zu Italien und sein Anteil an der Gegenreformation, Stans 1906.
  • Ganz-Blättler, Ursula: «Ich kam, sah und berührte». Jerusalem als Pilgerziel im ausgehenden Mittelalter, in: Haupt, Barbara / Busse, Wilhelm G.: Pilgerreisen in Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 2006 (Studia humaniora 41), S. 15–29.
  • Historischer Verein von Nidwalden (Hg.), Gedenkschrift zur Einweihung des Denkmals für Ritter Melchior Lussy (1529-1606) und zur Feier seines 350. Todestages, Stans 1955.
  • Hodel, Fabian: Lussi [Lussy], Melchior, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), 20.10.2009, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D23178.php (Stand: 26.09.2016).
  • Lussi, Melchior: Reissbuch gen Hierusalem, Freiburg in Uchtland 1590.
  • Noonan, Thomas F.: The Road to Jerusalem. Pilgrimage and Travel in the Age of Discovery, Philadelphia 2007.
  • Wymann, Eduard: Bethlehem und Umgebung nach einer Beschreibung von Ritter Melchior Lussy, in: Boesch Gottfried (Hg.), Eduard Wymann. Historische Aufsätze, Beiheft Nr. 3 zum Geschichtsfreund, Stans 1958, S. 135–139.
Bild zur Ausstellung: Melchior Lussi, «Reissbuch gen Hierusalem»