Leichenwagen
NM 10058
Der Leichenwagen wurde 1997 dem Nidwaldner Museum als Dauerleihgabe von der Kirchgemeinde Wolfenschiessen durch ihren Präsidenten Hanspeter Niederberger übergeben. Der Wagen, auch als «Kutsche» bezeichnet, entspricht der Form eines gefederten, von Pferden (oder Zugtieren) gezogenen, überdeckten Fuhrwerks aus schwarz bemaltem Holz mit silbernen Dekorationen. Er ist mit einer verschiebbaren Sargtrage, zwei Kutschenlampen sowie Gold bestückten Vorhängen und Kordeln ausgestattet. Genaue Angaben zur Datierung fehlen, aufgrund historischer Fotos von ähnlichen Leichenwagen ist eine Bauzeit im 19. oder anfangs des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich. Ein berühmtes stereoskopisches Bild vom Leichenzug des französischen Schriftstellers Victor Hugo z. B. zeigt einen ähnlichen Leichenwagen bei der Beerdigungszeremonie am 1. Juni 1855 in Paris.[1] Ebenso findet sich in Maria Generosa Christen-Odermatts Buch zur Geschichte von Stans in den Zwischenkriegsjahren das Bild einer identischen Kutsche.[2]
Der Leichenwagen galt im 19. und 20. Jahrhundert auch in Ob- und Nidwalden als wichtiger Bestandteil des Sterbe- und Totenrituals, das bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufrecht erhalten blieb.[3] Insbesondere der Leichenzug spielte eine zentrale Rolle beim gemeinschaftlichen und öffentlichen Teil des Begräbnisses. Das Zeremoniell war aber in jedem Dorf anders. Jede einzelne Version zeugte von den typischen Bräuchen einer bestimmten Gemeinde. Da der Leichenwagen des Nidwaldner Museums aus Wolfenschiessen stammt, befasst sich dieser Text in erster Linie mit dem dortigen Totenritual.
Die Sterbe- und Totenrituale der Zentralschweiz am Beispiel der Gemeinde Wolfenschiessen
Das Totenritual war systematisch geregelt und spiegelte die damaligen komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse wider. Es erzählt von vergangenen Zeiten und faszinierenden Volksbräuchen, die heute zum grössten Teil verloren gegangen sind. Solche Bräuche waren Teil eines kulturellen Erbes, das meistens mündlich weitergegeben wurde und jedem Mitglied der Gemeinschaft bekannt war, so auch in Wolfenschiessen. Das Sterberitual aus dem vergangenen Jahrhundert ist nicht in schriftlicher Form überliefert, sondern lässt sich nur durch Erzählungen von Zeitzeugen und zeitgenössische Bilder teilweise rekonstruieren.
Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte das familiäre und häusliche Umfeld beim Totenritual eine wichtigere Rolle als heute. Nachdem ein Verwandter oder eine Verwandte gestorben war – üblicherweise im Wohnhaus der Familie – wurde die Leiche meistens zu Hause in einem offenen Sarg aufgebahrt. Der Priester, mit dem der Termin für das Begräbnis vereinbart wurde, sowie der Sargschreiner, der den Sarg fertigte und zuständig für das Einsargen und die Aufbahrung zu Hause war, waren die ersten, die von einem Todesfall benachrichtigt wurden. Normalerweise diente die Stube oder das Stübli als Aufbahrungszimmer, wo Freunde, Verwandte, Nachbarn, Bekannte und Mitglieder der Gemeinde den Angehörigen des Verstorbenen ihr Beileid aussprachen. Beim Kondolenzbesuch erfuhren die Besucher die Todesursache und benetzten die Verstorbenen mit Weihwasser.[4]
Die Stimmung im Aufbahrungszimmer war intim und feierlich. Die Fenster sowie die Fensterläden wurden geschlossen und der ganze Raum mit schwarzen Tüchern drapiert, vermutlich vom Gärtner, der auch für die Blumen- und Pflanzdekorationen zuständig war. Die Leiche war von zahlreichen üppigen Pflanzen und Blumen umgeben, wie etwa von Lorbeerbüschen, Thujen und Lilien. Wenn die Trauernden den Raum betraten, wurden sie von einem sehr intensiven Geruch umhüllt, der sich mit jenem der Kerzen zusätzlich mischte. In diesem Rahmen ist auch die Versehgarnitur zu nennen. Der Priester benutzte sie bei der letzten Ölung. Sie bestand aus einem Standkreuz, Kerzen, Kerzenständern, silbernen Schalen, Weihwasser und einem weissen, bestickten Tuch, mit dem der Priester sich die Finger bei der Ablution abtrocknen konnte. Die Versehgarnitur galt als ein unerlässliches Utensil im katholischen Haushalt.
Zu dieser ersten Phase vor der Beerdigung, die aus sanitären und hygienischen Gründen innerhalb von drei Tagen nach dem Tod stattfinden musste, gehörte ausserdem die Trauerarbeit. Beim Kondolenzbesuch sprachen die Anwesenden die Gebete der «Fünf Wunden» («Fejfi-Bäta») am Sarg. Darauf folgten Fürbitte und Abbitte für die Seelenruhe und die Sünden der Toten. In diesem Zusammenhang war die Figur der Vorbeterin (die «Lejichäbätteri») wichtig. Sie sass normalerweise am späteren Nachmittag neben der Leiche und betete ohne Unterbruch, die Rosenkranzperlen nacheinander mit den Fingern drehend. Die Vorbeterin sagte die Gebete in einer Leier auf. Die ersten Wörter eines Absatzes waren immer klar ausgesprochen, allmählich entwickelte sich das Gebet zu einem verworrenen Gemurmel, was eine magische und intime Stimmung schuf.[5] Diese Figur faszinierte insbesondere die Schüler, die nach dem Unterricht das Aufbahrungszimmer besuchten und die Verstorbenen neugierig betrachteten: Der Tod wurde damals als natürliche Erfahrung und ohne Angstgefühle erlebt.
In anderen Gemeinden waren während der Trauerarbeit diverse oder zusätzliche Todesritualetappen zu absolvieren. In Stans gab es z. B. das «Klänke» (oder auch «Chlänkä» genannt, abgeleitet vom mittelhochdeutschen Wort «klanc», ‚Klang‘).[6] Sobald der Pfarrer die Nachricht eines Todes erhielt, beauftragte er den Sigrist, die Gemeinde durch das Läuten der Totenglocke zu informieren. Mit drei Glockenzeichen wurde der Tod eines Mannes, mit zwei derjenige einer Frau angekündigt. Beim Tod eines Kindes läutete der Sigrist mit einer kleineren Glocke. Drei Zeichen meldeten den Tod eines Knaben – welcher das Alter der ersten Kommunion noch nicht erreicht hatte – zwei den Tod eines Mädchens. In Wolfenschiessen erfolge das «Klänke» ausschliesslich während des Leichenzuges.
Der Leichenwagen als Zeitzeuge eines vergangenen Totenrituals
Der Leichenzug bildete den Beginn der zweiten Phase, jene des Begräbnisses. Dazu gehörte oftmals ein Leichenwagen. Am Begräbnistag fanden sich die Angehörigen, Bekannten, Freunde und Nachbarn vor dem Trauerhaus der Familie ein. Sie begleiteten den Leichenzug zur Pfarrei-Kirche Wolfenschiessen, wo die Geistlichen, die Fahnenträger der Vereine und der Bruderschaften sowie die übrigen Dorfbewohner auf den Sarg warteten. Beim Begräbnis diente ein Kind als Grabkreuzträger («Chryyzliträger»). Dieses wurde von den engsten Trauerfamilienangehörigen ausgewählt, in der Regel handelte es sich um das älteste Patenkind des oder der Verstorbenen. War unter ihnen ein Erstkommunionkind, hatte dieses den Vorzug. Das «Chryyzli» verblieb anschliessend auf dem Grab, bis ein Grabstein oder ein kunstvolles Kreuz gesetzt wurde. Das Kind übte somit eine der wichtigsten Funktionen der ganzen Zeremonie aus.
Beim Trauerzug gab es bestimmte, ungeschriebene, jedoch allgemein respektierte Benimmregeln. Die Teilnehmer kleideten sich alle schwarz und beteten ununterbrochen. Auch die «Lejichäbätteri» war dabei und führte die übrigen Anwesenden beim Gebet an. Aus Rücksicht auf die Verstorbenen sass der Fuhrmann auf dem Weg zur Kirche nicht auf der Sitzbank, sondern lief auf der Seite der Kutsche und führte das Pferd. Auch wer dem Leichenzug begegnete, musste ebenso einige ungeschriebene Regeln einhalten. Man durfte z. B. den Leichenwagen weder zu Fuss noch mit dem Fahrrad oder mit dem Auto überholen, stattdessen schloss man sich dem Leichenzug an. Damit wurde dem/der Verstorbenen Respekt für die letzte Reise gezollt.
Die Prozession zur Kirche war durch Besinnungshalte unterteilt. Entlang der Strecke befanden sich Kapellen und Bildstöcke (die «Helgästeckli»), die die Haltestellen kennzeichneten. Wenn der Leichenwagen bei einem «Helgästeckli» oder einer Kapelle vorbeifuhr, hielten die Begleiter des Leichenzuges an, um für die Seelenruhe des/der Verstorbenen zu beten. In Wolfenschiessen war die Sebastianskapelle im Dörfli als Prozessionshalt berühmt. Beim Vorbeifahren und Innehalten des Leichenzuges war es üblich, die kleine Glocke der Kapelle zu läuten – das «Klänke». Diese Gebetshalte bezeichnet man als «Lejichäghirmi» (aus der Mundart «ghirmä», ‹ausruhen›, ‹rasten›). Anschliessend folgten die Beerdigung, der Gottesdienst und ein gemeinsames Essen, das Leichenmahl («Lejichä-mählti»).
In diesem Zusammenhang spielte der Leichenwagen eine bedeutende Rolle. Er begleitete die Verstorbenen auf ihrer letzten Reise und ermöglichte der Gemeinschaft, sich würdig zu verabschieden. Der schwarze Leichenwagen aus der Sammlung des Nidwaldner Museums erzählt somit von spannenden Traditionen und Volksbräuchen vergangener Zeiten, die einen wichtigen Teil der Geschichte Wolfenschiessens und Nidwaldens ausmachen.
Der Leichenwagen ist vom 12. Juni bis zum 16. Oktober 2016 im Rahmen der Ausstellung aut vincere aut mori von Christian Philipp Müller im Winkelriedhaus zu sehen.
Autorin: Martina Albertini, 2016
Literaturangaben
- Christen-Odermatt, Maria Generosa: Willkumm zuenis, Stans, von Matt, 2007.
- Imfeld, Karl: Volksbräuche und Volkskultur in Obwalden, Kriens, Brunner, 2006.
- Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Leipzig, 1872–1878, 3 Bde.
- mheu – Musée historique environnement urbain, Paris. (http://www.mheu.org/fr/chronologie/funerailles-victor-hugo.htm. Stand: 18.08.2016).
- Philipp-Albert-Stapfer-Haus Lenzburg (Hg.): Last minute. Ein Buch zum Sterben und Tod, Baden, hier + jetzt, 2002.
- Untersuchungen von Jos Näpflin: http://www.josnaepflin.ch/ (Stand: 18.08.2016).
[1] Die anonyme Fotografie gehört zum Bestand des französischen Fotografenstudios Léon & Lévy: http://www.mheu.org/fr/chronologie/funerailles-victor-hugo.htm. Stand: 18.08.2016).
[2] Christen-Odermatt, Willkumm zuenis, S. 157.
[3] Imfeld, Volksbräuche und Volkskultur, S. 216. Imfeld beschreibt insbesondere die Totenrituale Obwaldens sehr ausführlich.
[4] Philipp-Albert-Stapfer-Haus Lenzburg (Hg.), Last minute. Ein Buch zum Sterben und Tod, S. 124–78.
[5] Dies erzählt auch Maria Generosa Christen-Odermatt für Stans (Willkumm zuenis, S. 118).
[6] Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. III, Sp. 273.