Lebendmaske Johann Heinrich Pestalozzi

NM 159

Das Motiv der Maske ist in mehrfacher Hinsicht von grosser Aktualität. Auf die leider nach wie vor omnipräsente COVID-19-Pandemie und die damit verbundene(n) Maskenpflicht(en) soll an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden.

Ein deutlich erfreulicherer Bezugspunkt stellt da die Tatsache dar, dass im Nidwaldner Museum Winkelriedhaus momentan eine Sonderausstellung der Urner Künstlerin Nathalie Bissig zu sehen ist, die als einen der Schwerpunkte ebendieses Thema Masken hat. Auf verspielte Art und Weise greift Bissig mit engem Bezug zu ihrem Heimatkanton Mythen und Bräuche wie beispielsweise die Fasnacht auf und verarbeitet diese in zugleich verspielter als auch leicht verstörender Form.

Wenn man Masken nun im Allgemeinen betrachtet, so kann man sie als Gesichtsbedeckung klassifizieren, die aus verschiedenen Materialien hergestellt sein kann. Masken sind seit tausenden von Jahren Bestandteil der Menschheitsgeschichte und wurden/werden in verschiedensten Kulturkreisen zu unterschiedlichsten Zwecken verwendet, sei es zu rituellen Zwecken, zum Schutz, oder natürlich als Theater- oder Karnevalsmasken.

Um den Bezug zur eingangs erwähnten Aktualität wieder herzustellen, soll schliesslich eine eher unbekannte Maskengattung betrachtet werden: Die Lebendmaske. Lebendmasken bilden sozusagen das Gegenstück zu den deutlich bekannteren Totenmasken und gemeinsam bilden sie die Gattung der sogenannten Porträtmasken. Solche wurden von besonders wichtigen Persönlichkeiten genommen, meist in Form eines Gipsabgusses. Berühmte Beispiele von Lebendmasken sind jene von Ludwig von Beethoven oder Goethe. Sie vermögen uns bis heute einen guten Eindruck davon zu vermitteln, wie diese Persönlichkeiten zu Lebzeiten ausgesehen haben.

Hier soll nun die Lebendmaske von Johann Heinrich Pestalozzi genauer betrachtet werden. Der Schweizer gilt als einer der wichtigen und prägenden Pädagogen seiner Zeit. Diesem Status verdanken wir die abgebildete Lebendmaske von ihm. Sie wurde 1809 durch den bedeutenden Nidwaldner Bildhauer Joseph Maria Christen erstellt. Christen stammte ursprünglich aus Buochs, bereiste allerdings im Rahmen seiner Tätigkeit als Künstler verschiedene Regionen der heutigen Schweiz, Italiens und Deutschlands. Sein berühmtestes Werk schuf er 1805 in Mailand: Eine Hermenbüste von Napoleon Bonaparte. In späteren Jahren zunehmend von psychischen Problemen geplagt – die eine zwischenzeitliche Einweisung in die Irrenanstalt Königsfelden notwendig machten – starb Christen schliesslich einsam und verbittert in der bernischen Festung Thorberg.

Die Maske Pestalozzis diente als Vorlage für eine Marmorbüste, die Christen im Auftrag des bayrischen Kronprinzen Ludwig I. für eine geplante Walhalla in der Nähe der bayrischen Stadt Regensburg anfertigen sollte. Der Umstand, dass Pestalozzi bereits zu seinen Lebzeiten als Teil dieser Gedenkstätte deutschsprachiger Persönlichkeiten in Erwägung gezogen wurde, ist ein deutliches Indiz für sein damals schon grosses Renommée. Das Original der Maske befindet sich heute in Besitz der Gottfried Keller-Stiftung und ist im Pestalozzianum in Zürich ausgestellt. Beim Sammlungsobjekt handelt es sich um eine von zahlreichen Abgüssen der Originalmaske.

Welchen Bezug hat Pestalozzi nun zum Kanton Nidwalden, dass sich seine Lebendmaske im Besitz der kantonalen Sammlung befindet und inwiefern lässt sich durch ihn der mehrmals erwähnte Bezug zur Aktualität herstellen? Die Person Pestalozzi ist eng verbunden mit den Ereignissen, die sich in diesem Herbst zum 222 Mal gejährt haben. Die Rede ist vom Franzoseneinfall.

Als die Alte Eidgenossenschaft nach dem Einmarsch der Franzosen im Frühjahr 1798 wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen war und in eine zentralistisch organisierte französische Tochterrepublik transformiert werden sollte (Helvetische Republik), leistete Nidwalden als einer der wenigen Orte erbitterten Widerstand und lehnte die neue Verfassung ab. Als Konsequenz davon fielen im September 1798 französische Truppen in Nidwalden ein. Trotz erbittertem bewaffnetem Widerstand der eilig aufgestellten Truppen mussten sich die Nidwaldner schliesslich der überlegenen Streitmacht des Gegners geschlagen geben Zahlreiche Häuser in Stans und anderen Dörfern wurden in der Folge von den Franzosen niedergebrannt und etwa 400 Nidwaldner liessen ihr Leben. Nicht wenige der Opfer waren Zivilisten. Eine tragische Folge der Vorfälle war eine grosse Zahl von Kindern, die Halb- oder gar Vollwaisen geworden waren. An dieser Stelle betrat nun Johann Heinrich Pestalozzi die Bühne Stans.

Der 1746 in Zürich geborene und ebendort aufgewachsene Pestalozzi war ein Anhänger der Patrioten, welche eine Erneuerung des Vaterlandes anstrebten. Demzufolge war er grundsätzlich ein Befürworter und Unterstützer der Umwälzungen des Jahres 1798. Er agierte als politischer Publizist und kurzzeitiger (und erfolgloser) Redaktor des helvetischen Volksblatts im Namen der neuen Regierung. Er erhoffte sich durch die neuen Verhältnisse auch eine Umsetzung seiner in jahrelanger Arbeit entwickelten Pläne zur Volkserziehung, die er zuvor bereits mit der Gründung und Leitung einer Armenanstalt im aargauischen Birr ein erstes Mal in die Tat umzusetzen versucht hatte. Das harte Schicksal der Nidwaldner Bevölkerung und insbesondere der Kinder erschütterten ihn daher zutiefst und er wollte helfen. So beschloss er, sich nach seinem letztlich gescheiterten Versuch in Birr erneut der Jugend zu widmen. Am 5. Dezember 1798 wurde er mit der Unterstützung des helvetischen Direktoriums zum Leiter eines Waisen- und Armenhauses in Stans ernannt, welches in der Folge in einem Nebengebäude des Frauenklosters untergebracht wurde und im Januar 1799 eröffnet wurde. Der progressive und zudem noch reformierte Pädagoge stiess bei der katholisch-konservativen Bevölkerung und den lokalen Behörden zunächst allerdings auf wenig Gegenliebe. Anfangs waren auch die Zustände der Unterkunft prekär, aber schon bald konnten die meist um die 50 Kinder in grossem Masse von den Unterbringungsmöglichkeiten und pädagogischen Fertigkeiten Pestalozzis profitieren. Sogar die zu Beginn sehr skeptisch eingestellte Stanser Geistlichkeit konnte er schliesslich von seinen humanistisch geprägten Methoden überzeugen. Mitten in diesem Aufschwung musste die Einrichtung – bedingt durch die Wirren des Zweiten Koalitionskrieges – wieder geschlossen werden. Pestalozzi war aufgrund dessen dermassen deprimiert, dass er Stans umgehend verliess, um erst einmal im Gurnigelbad zu kuren. Die Erfahrungen in Stans sollten seinen weiteren pädagogischen Werdegang und seinen Ruf als «Vater der Waisen» allerdings nachhaltig prägen. Pestalozzis Arbeit in Stans, weitere Tätigkeiten als Pädagoge in Burgdorf und Yverdon sowie seine pädagogischen Schriften festigten schliesslich seinen Rang als einer der bedeutendsten Vertreter seiner Zunft und Begründer der Anschauungspädagogik. Er starb 1827 in Brugg (AG). Seine Grab- und Gedenkstätte befindet sich in Birr.

Die obenstehenden Ausführungen vermögen hoffentlich zumindest ansatzweise zu verdeutlichen, was für ein Segen Pestalozzis Wirken in dieser verdriesslichen Zeit für die Bevölkerung von Stans dargestellt haben mag und welch enormen Einfluss aber im Umkehrschluss auch die Erfahrungen in Stans auf Pestalozzi und sein weiteres Werk gehabt haben. Daher hat es dieser grosse Schweizer auch verdient, u.a. in Form der beschriebenen Lebendmaske in der Sammlung des Nidwaldner Museums vertreten zu sein.

Autor: Cyrill Willi, Praktikant

Literatur

Bild zur Ausstellung: Lebendmaske Johann Heinrich Pestalozzi