Kusszange von Hans Rudolf Ambauen
NM 3498
Mit einem Kuss ins neue Jahr – Kusszange von Hans Rudolf Ambauen
Es gibt viele verschiedene Traditionen und Rituale, wenn es darum geht in ein neues Jahr überzugehen; es gibt sie in den verschiedenen Ländern dieser Erde und dabei zahlreiche Unterschiede. Wann das neue Jahr beginnt, ob das Neujahrsfest über mehrere Tage gefeiert wird oder sich auf eine Nacht beschränkt, ob es im Sommer oder im Winter stattfindet, was dabei traditionellerweise gegessen wird, ob getanzt, gebetet oder meditiert wird, ob Feuerwerke in den Himmel gelassen werden oder Kerzen angezündet. Der Start ins neue Jahr verläuft vielerorts ganz eigentümlich. Doch etwas hat sich durchgerungen, scheint sich durch alle Kulturen, gesellschaftlichen Schichten, über die Generationen hinweg als eine grosse Gemeinsamkeit herauszustellen: der Kuss zum Jahresübergang.
Der romantische Kuss, bei dem sich die Lippen zweier Menschen berühren, scheint sich im europäischen Mittelalter zu etablieren. Zu dieser Zeit kommt er erstmals explizit in Erzählungen, Gedichten oder Liedern vor und ist seither zu einem idealen Symbol von Liebe geworden. Das Bedürfnis jemanden zu küssen, liegt jedoch nicht in unseren Genen verankert, sondern ist als ein Produkt kultureller Praktiken zu sehen. Die mittelalterlichen Quellen zeugen davon, dass sich die Liebe der Kontrolle der Familie nach und nach entzieht und immer mehr zur Angelegenheit des Einzelnen, zur persönlichen Entscheidung wird. Die romantischen Wünsche, die mit dem Küssen verbunden sind, werden in dieser Individualisierung und der Entkoppelung von den traditionellen familiären Ordnungen massgebend.
Die romantische Liebe und der Kuss auf die Lippen sind mittlerweile so populär, dass wir kaum darüber nachdenken, warum wir küssen oder wie es zu dieser weltweiten Verbreitung gekommen ist.
Von wo aus diese Verbreitung stattgefunden hat, darüber kann die Sprache, d.h. die Begriffe, die das Küssen bezeichnen Aufschluss geben. Im Deutschen und seinen Dialekten beispielsweise gibt es eine Vielzahl verschiedener Bezeichnungen für den Kuss; über dreissig! Ob Schmützli, Möntschi, Bussi oder das lautmalerische Schmatz – das Küssen scheint in unseren Breitengraden eine wichtige Rolle zu spielen. In anderen Sprachen und Kulturen hingegen sind kaum Entsprechungen vorhanden, das heisst, der sprachliche Ausdruck für das Küssen wurde vermutlich erst später und aus anderen Sprachen adaptiert. In einigen asiatischen Gesellschaften sind andere Formen einer romantischen Zuneigung, beispielsweise das gegenseitige Reiben der Nasen, traditionellerweise gebräuchlicher, sodass auch spracheigentümliche Bezeichnungen weitgehend fehlen. Dass sich der Kuss zuerst im christlich-europäischen Raum ausgebreitet hat, mag auch an den Beschreibungen des Kusses in der Bibel liegen. Dort wird das Küssen vor allem in Szenen erwähnt, in denen sich Menschen in ausserehelichen Affären begegnen. Ob es sich aber tatsächlich um Lippenküsse handelte, bleibt ungewiss. Wahrscheinlicher ist, dass der Lippenkuss im Nachhinein und vor dem Hintergrund der zeitaktuellen Popularität und Alltäglichkeit in diese Szenen hineingelesen wird. Und das heisst auch, dass eine direkte Herleitung des romantischen Lippenkusses aus einer biblischen Tradition nicht möglich ist.
Die Kusszange von Hans Rudolf Ambauen zeigt eine solche romantische Liebe – über die funktionale Bewegung der Zange, des Zueinanderkommens und Auseinandergehens –, die an den Kuss gebunden ist. Der Nidwaldner Künstler hatte sie als Hochzeitskarte für ein befreundetes Paar gestaltet. Sexualität und Erotik spielen aber auch in seinem übrigen Schaffen immer wieder eine wichtige Rolle. Dazu gehört auch der Kuss, der in der Arbeit von Ambauen über die romantische Ebene hinaus auch eine erotisch-sexuelle Zuschreibung erfährt. 1937 in Luzern geboren, schreibt sich der Künstler an der ETH in Zürich ein, um Maschinenbau zu studieren, daneben besucht er Kurse im Akt- und Figurenzeichnen in der Abteilung der Architektur. Nach vier Semestern wechselt H.R. Ambauen an die Universität, wo er an der philosophisch-historischen Fakultät verschiedenste Vorlesungen besucht. Seit der Matura interessiert sich Ambauen für das Zeichnen, je tiefgreifender er es ausübt desto dichter werden seine Radierungen. «Hans Rudolf Ambauen hat die besondere Fähigkeit, das in den Dingen vielfältig Angelegte aufzuspüren.» [i] Wie mit einem Zauberstab kombiniere, montiere der Künstler die Dinge, funktioniere sie so um, dass sie ihm passen und die Betrachtenden in fremde Welten entführen, schreibt der Kunstschriftsteller Willy Rotzler Mitte der 1970er Jahre. Die Arbeiten des Künstlers, die vielfach auch erotisch enthüllend wirken, sind nicht als amüsante Einfälle zu verstehen, sondern vielmehr als Aufdeckung oder gar Blossstellungen zeitaktueller Lebensstile. Trotzdem geht das erotische Moment immer einher mit etwas Ironischem, das gleichzeitig aber insofern enthüllend wirkt, als Ambauen die Fragen, die dahinter stehen, nicht ausser Acht lässt.
Vor diesem Gedankengerüst ist wohl auch die «Kusszange» zu verstehen. Was bedeutet das Küssen eines heterosexuellen Paares? Was bedeutet die Ehe in einer Zeit, in der freie Liebe zelebriert wird? Welchen Veränderungen in der Sexualität und der Geschlechterfragen sehen wir uns ausgesetzt? Vielleicht wären solche Fragestellungen möglich. Darüber hinaus aber ist sie als Motiv – ursprünglich erdacht als Vermählungsanzeige – schön anzuschauen. Das Schliessen der Zange bewirkt das Umschlingen der liebenden Arme und mündet im Kuss, um sich erneut zu öffnen und schliesslich wieder zusammen zu finden.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen ein schönes und erfolgreiches neues Jahr!
Autorin: Magdalena Bucher, 2016
Literaturangaben
- Bertschy, Hanspeter (Hg.): H.R. Ambauen. Radierungen, Objekte, Body Art. Luzern 1974.
- Danesi, Marcel: The History of the Kiss! The Birth of Popular Culture. New York 2013.
- Droste, Dietrich: Die Gesellschaft der Menschen. Ihre Entstehung, Funktionsweisen und Zukunftsperspektive. Eine energetische Gesellschaftstheorie. Frankfurt a.M. 2015.
- Küssen. Querformat: Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur. Nr. 5, 2012.
[i] Bertschy, Hanspeter (Hg.): H.R. Ambauen. Radierungen, Objekte, Body Art. Luzern 1974, S. X.