Haarbild
NM 12876
Materielle Kultur zum Totengedächtnis
Im liturgischen Jahr gilt November als Monat des Totengedenkens. Aufgrund zahlreicher christlicher Feste – vor allem Allerseelen für die römisch-katholische Kirche, der Totensonntag für die evangelisch-reformierte Kirche – sowie des Halloween-Festes, die in unterschiedlicher Hinsicht dem Totenkult gewidmet sind, erlebt man eine andächtige und spannende Atmosphäre.
Heute verbindet sich die liturgische Feier – die durch Almosen, Fürbitten und Besuchen am Friedhof den büssenden Seelen Ablässe zuwendet – mit uralten, oft heidnischen, Volksbräuchen, die ursprünglich den Aufstieg der Seelen vom Fegefeuer auf dem Land feierten. Neben dem religiösen, von den verschiedenen Kirchen formal geförderten Totenkult befindet sich daher eine volkstümliche Erinnerung an die Toten, die sich stark auf die Materialität stützt. Als Beispiele dazu dienen die Bräuche, zu Allerseelen die Friedhöfe mit frischen Blumen, kleinen Objekten und Kerzen zu schmücken und typische Gebildbrote und Gebäcke vorzubereiten und zu verschenken. Während meiner Tessiner Kindheit konnte ich am 2. November köstliche, harte Mandelgebäcke essen. Deren Name, «oss da mort», spielt mit der Doppeldeutigkeit der Redewendung auf Tessiner Mundart. Sie mag sowohl ‹Beissknochen› (aus «da mordere», ‹zum Beissen, zum Nagen›) als auch ‹Totenknochen› (aus «dei morti», ‹der Toten›) bedeuten.[1] Die Objekte, und darunter auch alles, was essbar ist, werden also zur Ausdrucksform des Totengedenkens und der Auseinandersetzung der Lebenden mit den Verstorbenen.
Das Objekt dieses Monats gehört ebenfalls zur Kategorie der Artefakte, die man in der Vergangenheit benutzte, um das Gedächtnis der Toten materiell zu begehen. Haarbilder waren sogar im 19. und 20. Jh. die bedeutendsten Symbole der Sepulkralkultur.[2]
Haarbilder: ein europäisches Kulturerbe zwischen Handwerk, Zauberei und Erinnerung
Wenn man zum ersten Mal im Nidwaldner Museum die acht Bilder mit Schriften und floralen Gebilden sieht, erkennt man sie sofort als Objekte, die zum Gedenken an Hochzeit und Tod und damit zur Erinnerungskultur gehören. Für Hochzeiten sind üblicherweise Brautkränze mit dem Hochzeitsdatum und den Namen des Brautpaars abgebildet, während die Totengedenken Kreuze, Trauerweiden, Friedhofslandschaften und oft die Namen und Lebensdaten des Verstorbenen aufzeigen. Auf den ersten Blick scheinen ausserdem die Bilder zweidimensional zu sein. Bei näherer Betrachtung merkt man jedoch sofort, dass die Bildmotive in drei Dimensionen angefertigt sind. Es handelt sich um Kästen, deren Seitenwände in der Regel einige Zentimeter tief sind. In der Vertiefung sind Objekte wie Gebinde, Blumengebilde, Kreuze und Karten mit Textsprüchen wie «Zum Andenken» aufgeklebt. Was den Beobachter aber überrascht ist das Material, aus dem diese Bildkompositionen bestehen: Menschenhaar, und zwar Haar des Brautpaares beziehungsweise der Toten.
Heute mag der Betrachter sich tief von solchen Artefakten beeindrucken lassen. Im 19. und 20. Jh. waren solche Objekte ein Teil des alltäglichen Lebens. Man hat sie damals sogar überall mit sich getragen, meist in Form von Schmuck – Taschenuhrketten für Männer, Ringe, Ohrringe, Halsketten und Armbänder für Frauen. Dieser Gegensatz zeugt von verschiedenen, zeitgemässen Haltungen zum Tod.
Das Brauchtum, Andenken mit Totenhaar zu fertigen, stammt ursprünglich aus der viktorianischen Epoche, die, wegen Königin Victorias Treue dem Andenken an ihren Ehemann, den jung gestorbenen Prinz Albert, eine ausgeprägte und komplexe Erinnerungskultur entwickelt hatte. In Nordeuropa breitete sich das Brauchtum schnell aus, später in Frankreich und auch in Teilen der Schweiz. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Haarschmuck und Haarbilder ihren Höhepunkt erreichten, gab es echte, fachkundige Handwerker – Haarflechter, -juweliere aber auch Nonnen und Mönche, da Kloster Hauptproduzenten von Haarobjekten waren –, die raffinierte Objekte mit Menschenhaar schufen.[3] Solche Objekte sind aber nicht als rein dekorativ zu verstehen. Dem menschlichen Haar wurde immer magische Kraft und Bedeutung zugewiesen, und zwar im Rahmen des Totenkultes. Nägel und Haare sind die einzigen Teile des menschlichen Körpers, die auch nach dem Tod nachwachsen und die sich nicht zersetzen. Sie verschieben die Grenze zwischen Leben und Tod und deswegen werden sie zum Symbol des Weiterlebens nach dem Sterben.[4]
Haare wurden bei den Artefakten der Sepulkralkultur wegen ihrer Symbolik angewendet. Sie sind das «lebendige Stück» einer geliebten Person, die sich vom Leben verabschiedet hat, etwas, das ihre Präsenz auf der Welt verewigt. In einer Epoche, als Fotografien noch nicht allgemein verfügbar waren, wurden die Haare zum geschätzten und unersetzlichen Andenken an einen zu früh gestorbenen, sehr vermissten Angehörige. Haare wurden für unterschiedliche Typologien von Totengedenken benutzt, aber meistens für die Herstellung von Schmuck und Haarbilder, die man mit sich nehmen beziehungsweise im Wohnraum aufbewahren konnte.
In Museen kommen Haarbilder in verschiedenen Formen vor. Sie können einfach aus Haargebilden und trockenen Blumen, aber ohne Personenangaben und Texte, bestehen. Arrangements mit Blumen- und Pflanzenmotiven aus Haar, die mit Fotografien des Verstorbenen ergänzt sind, sind häufig in Museen zu finden. Eine weitere Kategorie von Haararbeiten stellen Kastenbilder mit Landschaft- und Friedhofszenarien dar. Ausserdem tauchen oft Bilder mit reinen Haargebinden in Form von fantasievollen Figurationen oder ungegenständlichen Gestecken auf. Kastenbilder können aber auch detailliertere und komplexere Haarkompositionen enthalten. Darunter findet man Haargebinde in Form von Zweigen oder Kränzen, die mit Texten, Fotos, Memento mori-Sprüchen sowie den Namen und den Lebensdaten des Verstorbenen ausgestattet sind, und Totenkränze aus Pflanzen und Blumen, die mit eleganten Haarelementen und Auskünften oder Gedichten über den zu erinnernden Menschen verziert sind.[5]
Bilder aus Totenhaar waren sehr beliebt auch in der Zentral- und Ostschweiz, und zwar im Appenzellerland, wo die Kunst der Haarflechterei besonders populär und geschätzt war und heutzutage wieder in Schwung gebracht wird. Neben wertvollem Schmuck aus Haar – Ketten, Uhrbänder, Broschen, Ringe, Armreife, und Krönchen – trifft man bei den Schweizer Museumsammlungen und bei den Antiquaren zahlreiche Beispiele von aufzuhängenden Haarbildern an.[6] Die Sammlung des Nidwaldner Museums bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
Die Haarbilder der Sammlung des Nidwaldner Museums
Das Nidwaldner Museum besitzt interessante und schöne Beispiele von Kastenbildern mit Elementen aus Menschenhaar (NM 524, 525, 539, 540, 6896, 11356, 12816, 12876) und beweist dadurch das Bestehen einer auf der Haarkunst basierten Gedenkkultur auch für die Zentralschweiz.
Eine der Haarkompositionen ist kein Totengedenken, sondern ein mit Menschenhaar angefertigter Hochzeitskranz, der einzige der Sammlung, der ausserdem aus dem Kanton Zug stammt. Er gedenkt der Vermählung von Peter Josef Heggli von Menzingen mit Maria Rosa Lina Bossard aus Zug am 23. September 1860 (NM 539). Das Haarmaterial stammt hochwahrscheinlich vom Brautpaar selbst, in Erinnerung an dessen schönsten Tag.
Die anderen Kastenbilder gehen alle auf das 19. und 20. Jh. zurück und sind in die oben skizzierte Praxis des Totengedenkens einzuordnen. Sie zeigen jedoch mannigfache Bildmotive und Baumaterialien auf. NM 525 und NM 540 enthalten dichte, mit Haarelementen verzierte Totenkränze als Mittelpunkt der Komposition, die durch den Namen und die Lebensdaten des Verstorbenen ergänzt sind. NM 524 und NM 6896 stellen sehr schöne und gut erhaltene Beispiele von Totenandenken mit Friedhofszenario dar. Bei beiden Kompositionen bildet das Haargebinde einen Kranz, der ein Kreuz umrahmt. NM 6896 ist besonders liebevoll und mit persönlichen Elementen arrangiert. Der Haarkranz umschlingt ein Schriftband mit den Lebensdaten einer jungen Frau sowie dem Widmungstext ihrer Eltern:
Andenken an unsere liebe Tochter Josefina von Deschwanden, geb. 24. Aug. 1894 – gest. 2. Februar. 1919. Zu früh bist du von uns geschieden; Umsonst war unser heisses Flennen. Ruhe sanft in Gottes Frieden, bis wir einst uns wiedersehen.
Das Totengedenken ist ausserdem mit einer zarten Trauerweide geschmückt, die auch aus Haar der Verstorbenen besteht.
Das Haarbild NM 11356 ist mit noch persönlicheren und komplexeren Bestandteilen versehen. In einem dunklen Holzrahmen befindet sich eine Grabinszenierung. Im Mittelpunkt steht ein weisser Sockel mit einem Kruzifix. An dessem Fusse findet man ein Schriftband mit Lebensdaten, und zusätzlich ein offenes Gebetbuch auf der linken Seite und ein ovales Foto des Verstorbenen auf der rechten Seite. Die gesamte Komposition ist mit Haargebüschen und –trauerweiden dekoriert. In diesem Fall sind die Haargebinde elegante und liebvolle Ergänzungen des Bildandenkens. Im Gegensatz dazu weist NM 12816 eine einfache und lineare Struktur auf. Der Bildkasten besteht aus einer feinen, aufgeklebten Haarschrift, die «Zum Andenken. K. Wirsch. J. Barmettler. J. Wirsch. M. Wirsch» lautet, wobei leider diversen Buchstaben einige Haare fehlen. In diesem Fall behält das Haarbild wegen seiner Einfachheit eine starke emotionale Komponente: Die Namen der geliebten Verwandten, mit ihren eigenen Haaren geschrieben, sind sorgfältig und mit einer sehr gepflegten Grafie aufgelistet.
NM 12876 stellt jedoch ohne Zweifel das schönste und ergreifendste Haarbild aus der Sammlung des Nidwaldner Museums dar. Die in Seiden eingefasste Kartonkiste mit Holzrahmen zeigt im Vordergrund eine Glasscheibe, wie diese bei Klosterarbeiten üblich ist. Hinter dem Glas entdeckt man eine azurblaue Welt, die aus kleineren Objekten besteht: Es ist die Welt der kleinen Theresli, die nach ihrem Tod von ihren Eltern liebevoll wieder aufgebaut wurde. Die Seitenwände der Kiste sind mit einem quicklebendigen, himmelblauen Papier beklebt, das als Hintergrund einer fabelhaften Naturlandschaft dient. In der Mitte stehen eine fliegende weisse Taube und ein Baum – vielleicht eine Trauerweide –, dessen Wipfel aus dem geflochtenen, blonden Haar Thereslis besteht. Getrocknete Blumen, Efeu, Blätter und Edelweiss umrahmen den Baum und die gefaltete Karte mit der handgeschriebenen Widmung an Theresli:
Andenken an unser liebes Kind Theresli, geb. 7. Sept. 1921 – gest. 25. Juni. 1928.
R.J.P.
Wenn im schönen Himmelsgarten
Oben eine Blume fehlt,
Schwebt ein stiller Engel nieder,
Pflückt die Blume auf der Welt
Trägt hinauf sie in die Räume,
Wo ein ewiger Frühling glüht,
Dass die Blum› in Gottes Nähe
Ewig duftet, ewig blüht.
Der Text ist ein Gedicht, das die Eltern selbst ausdrücklich für das Haarbild komponiert haben. Auf einem schwarz-weissen Foto, das in den Zwanziger Jahren so selten zu erhalten war, ist ihr Töchterchen mit einer Puppe abgebildet. Das Gedicht verleiht der Blumenkomposition einen neuen Sinn und zeigt im Allgemeinen die echte Bedeutung dieser Haarbilder: Sie sind keine rein dekorativen Bilder, sondern Artefakte mit grosser emotionaler, quasi reliquienhafter Kraft. Sie wurden mit Liebe und Sorgfalt angefertigt und, durch den Gebrauch vom Haar einer geliebten Person, konnten sie eine materielle Verbindung zwischen Lebenden und Toten schaffen und eine Trostmöglichkeit anbieten.
Die Haarbilder des Nidwaldner Museums zeugen von einem alten, heute in Vergessenheit geratenen Kulturerbe, das von einer sehr spannenden Mischung zwischen Handwerk, Traditionen, Volksglauben, Trauergefühlen und liebevoller Erinnerung erzählt.
Autorin: Martina Albertini, 2016
Literaturangaben
- Appenzell Tourismus: Jakob Schiess. URL: http://www.appenzell.ch/de/kultur-und-braeuche/volkskunst-und-handwerk/haarflechten/jakob-schiess.html (Stand: 18.11.2016)
- Fischer, Kathrin: Die Brautkränze der Sammlung M. Jochimsen, in: Fischer, Kathrin / Jochimsen, Margrethe (Hrsg.), Kastenbilder zum Gedenken an Hochzeit und Tod. Faszination eines vergangenen Brauchs. Sammlung Margrethe Jochimsen, Münster 2013, S. 39–50.
- Ead.: Die Totengedenken der Sammlung M. Jochimsen, in: Fischer, Kathrin / Jochimsen, Margrethe (Hrsg.), Kastenbilder zum Gedenken an Hochzeit und Tod, S. 72–83.
- Richter, Isabel: Der phantasierte Tod. Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert, Frankfurt / New York 2010.
- Rusch, Carl: Die Haarflechterei, ein längst vergessenes appenzell-innerrhodisches Kunsthandwerk, in: Innerhoder Geschichtsfreund 17 (1972), S. 58–70.
- Simmen, René: Ossi da morto, in: NZZ, Nr. 255, 02-03.12.1991, S. 91. URL: http://static.nzz.ch/files/3/1/9/Totebeinli+2_1.18180319.+november_1.18180319.pdf (Stand: 18.11.2016)
- Sörries Reiner: Zum Angedenken. Kranzkästen und Haarbilder als Folge des biedermeierlichen Familienkultes, in: Fischer, Kathrin / Jochimsen, Margrethe (Hrsg.), Kastenbilder zum Gedenken an Hochzeit und Tod, S. 86–93.
- Werfring, Johann: Menschenhaarbilder als Zimmerdenkmale, in: Wiener Zeitung, Beilage ProgrammPunkte, 05.04.2012, S. 7. URL: http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/museum/447994_Menschenhaarbilder-als-Zimmerdenkmale.html (Stand: 18.11.2016)
[1] Simmen, Ossi da morto, S. 91. Auf Schweizerdeutsch ist dieses Gebäck «Totenbeinli» genannt.
[2] Richter, Der phantasierte Tod, S. 148; Werfring, Menschenhaarbilder, S. 7.
[3] Rusch, Die Haarflechterei, S. 59-60, S. 68.
[4] Richter, Der phantasierte Tod, S. 150–158.
[5] Fischer, Totengedenken, S. 73-75.
[6] Rusch, Die Haarflechterei, S. 58; S. 68 e ff. Heute gilt z.B. Herr Jakob Schiess als einer der berühmten Appenzeller «Haarbildner» (URL: http://www.appenzell.ch/de/kultur-und-braeuche/volkskunst-und-handwerk/haarflechten/jakob-schiess.html).