antibiotics online

Garette

NM 12286

Die Idee eines Objekts des Monats ist es, ein Objekt aus der Museumssammlung auszuwählen, aus dessen (Un-)Tiefen hervorzuholen und ins Schlaglicht zu rücken. Nun ist das Objekt des Monats Mai bereits ausgestellt: In der aktuellen Ausstellung «Luft Seil Bahn Glück», zu Kleinseilbahnen und Transportschiffchen im Kanton Nidwalden, steht im Salzmagazin unter der aufgehängten Materialseilbahn – einem sogenannten «Mistvogel» – eine Schubkarre. Oder wie wir auf gut Schweizerdeutsch sagen: eine Garette, die sinnbildlich den vom Bergbauernhof ins Tal transportierte Mist auffangen soll.

Wie gelangte diese Garette in die Sammlung des Nidwaldner Museums? Im Folgenden begebe ich mich auf eine historische Spurensuche, die neben dem -licht auch den Schlagschatten thematisieren und kontextualisieren soll.

Ein Blick in unsere Sammlungsdatenbank verrät mir – zumindest stückweise – die Besitzergeschichte: Der Leiter des Wohnheims Mettenweg meldete sich im Sommer 2010 beim Nidwaldner Museum. Im Zuge einer Stallräumung seien viele Gegenstände aufgetaucht, welche wohl ehemaligen Bewohnern des Bürgerheims gehörten oder aus noch früheren Zeiten stammen würden. In Absprache mit dem Wohnheim wählte das Museum 68 Objekte aus und integrierte sie in ihre Sammlung. Es sind ausschliesslich Gebrauchsgegenstände, wie diverse Werkzeuge (Sägen, Handbohrer usw.), landwirtschaftliche Geräte (unter anderem zwei Pflüge mitsamt Geschirr), jedoch auch einen Holzschlitten, zwei Paar Holzskier und eine Fahne – mit dem Schriftzug «Waisenanstalt Stans».

Die Spur führt mich also zum Wohnheim Mettenweg auf dem Stanser Boden. Heute ein Alters- und Pflegeheim, diente es bis 1981 der damaligen Armengemeinde Stans zuerst als Armen- und Waisenhaus später als Bürgerheim. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden überall in der Schweiz Anstalten für bedürftige Menschen. Denn das Wirtschaftswachstum infolge der Industrialisierung kam nicht allen Kantonen und deren Bürgerinnen und Bürgern gleichermassen zugute. Nidwalden konnte – nicht zuletzt wegen seiner geografischen Lager – mit den florierenden Wirtschaftsstandorten der Schweiz nicht Schritt halten und bot nur beschränkt Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie oder im aufkommenden Tourismus. Tatsache ist, dass der Kanton zu dieser Zeit immer noch sehr ländlich und von der Landwirtschaft geprägt war. Der Bevölkerungsdruck war aber auch hier spürbar und wer keine Arbeitsmöglichkeit in der Landwirtschaft hatte, dem bot sich neben dem Auswandern kaum eine Alternative.

Zwischen 1850 und 1930 waren viele Nidwaldnerinnen und Nidwaldner von Armut betroffen. Sie konnten keine finanziellen Reserven anlegen: Krankheit, Invalidität und Alter, Tod des Ernährers oder eine grosse Kinderzahl bedeuteten ein unmittelbares Risiko für ihre Existenz und die Gefahr, in Armut abzurutschen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Sozialstaat mit einer Reihe von obligatorischen Versicherungen ausgebaut. Bis dahin waren Hilfsmassnahmen nur rudimentär ausgebildet. Eine wichtige Rolle nahm das Armenpflegesystem ein. Dieses sah vor, dass die Heimatgemeinden «unverschuldet» verarmte Bürgerinnen und Bürger unterstützten. Sogenannte «Armengenössige» mussten jedoch eine Reihe von Disziplinierungsmassnahmen über sich ergehen lassen: Unter anderem verloren sie das Stimm- und Wahlrecht oder wurden in Anstalten eingewiesen. Für die betroffenen Menschen stellte dies eine drastische Massnahme dar, da sie aus ihren bisherigen Lebenszusammenhängen herausgerissen und durch die «Versorgung» stigmatisiert wurden. Da niemand die «Armengenössigen» in seiner Nachbarschaft wissen wollte, entstanden die Armenanstalten gerne in Distanz zum Dorfkern – so auch das Stanser Bürgerheim.

1867 erwarb die Armengemeinde Stans das Trachslersche Haus an der heutigen Buochserstrasse Nr. 45 und richtete eine Armen- und Waisenanstalt ein. Arbeitspflicht und eine religiöse Lebensführung bildeten die Grundpfeiler solcher Armenhäuser. Alle «Armenhäusler» waren verpflichtet im Haus, im Garten oder im zugehörigen Landwirtschaftsbetrieb «Milchbrunnen» mitzuarbeiten. Sie hatten Tätigkeiten zu übernehmen, die sonst niemand verrichten wollte. So wurden sie seit den 1880er-Jahren zum Strassenreinigen, für die Reinigung der örtlichen Metzgerei und seit dem frühen 20. Jahrhundert bei der Kehrrichtabfuhr eingesetzt. Die Verantwortlichen der Armenanstalten liessen den «Insassen» kaum persönliche Freiräume und reglementierten ihr Verhalten bis ins Detail. Die noch 1950 erlassene Hausordnung des Bürgerheims Stans – die Kinder wurden ab 1903 in einem separaten Heim untergebracht – bestimmte beispielsweise, dass alle zu widerspruchlosem Gehorsam verpflichtet waren. Wer sich widersetzte, wurde in einem ersten Schritt mit Fasten bis auf zwei Mahlzeiten oder mit Arrest auf zwei Tage bei Wasser und Brot bestraft. Bei Rückfällen drohte die Einsperrung bis auf acht Tage, hierfür gab es auf dem Areal einen kleinen Zweckbau mit fünf Zellen, oder die Versorgung in eine ausserkantonale Zwangsarbeitsanstalt.

Zum Betrieb mit 7 Hektaren Land gehörte auch der Holzhandel. Der Holzschopf direkt an der Buochserstrasse, im Volksmund auch «Franzosengaden» genannt, zierte noch in den 1980er-Jahren grosse Holzstapel. Danach fristete der Schopf ein Dasein als Abstellraum, unter anderem für die Schubkarre und andere landwirtschaftlichen Geräte, bis das Nidwaldner Museum sie in seine Sammlung aufnahm. Die Gerätschaften sind Zeugnis einer Zeit, als die Landwirtschaft kaum mechanisiert war und viele Arbeiten von Hand getan werden mussten. Zudem sind sie historische Belege des anstrengenden Arbeitsalltags im Stanser Bürgerheim und Sinnbild für die Zwangsmassnahmen der damaligen Armenfürsorge im Kanton Nidwalden.

Denn in der Nachkriegszeit gerieten mit dem Anstieg des materiellen Lebensstandards das traditionelle System und die Praxis der Armenfürsorge in die Kritik. Die disziplinarischen Massnahmen in den Anstalten wurden beanstandet. Schliesslich stimmte die Landsgemeinde 1978 einem neuen Sozialhilfegesetz zu, welches stattdessen auf partnerschaftliche Fürsorge setzte. Heute plant die Gemeinde Stans am Mettenweg ein neues Pflegewohnhaus, das ein Angebot für Menschen schaffen soll, die Begleitung und Unterstützung bedürfen.

Autor: Mounir Badran, Mai 2018

Literatur

  • Gemeinde Stans, Neubau Pflegewohnhaus Mettenweg Stans. Programm Projektwettbewerb im einstufigen Verfahren mit Präqualifikation, Stand 13.11.2017.
  • Gerold Kunz, «Wohnheim Mettenweg Bürgerheim/Trachslersches Haus» und «Gaden Wohnheim Mettenweg», in: Bauinventar der Gemeinde Stans, Stans 2007/2008.
  • Sonja Matter, «Gesellschaft: Armut und soziale Randständigkeit», in: Geschichte des Kantons Nidwalden. Band 2. Von 1850 bis in die Gegenwart, hrsg. vom Kanton Nidwalden, Stans 2014, S. 58–66.
  • Ernst Niederberger, «Eine Serie über das Bürgerheim Stans», in: Nidwaldner Volksblatt, 17.5.–4.6.1983.
  • Reto Nussbaumer, «Stans», in: INSA. Inventar der neueren Schweizer Architektur. 1850–1920. Band 9. Sion, Solothurn, Stans, Thun, Vevey, hrsg. von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, Bern/Zürich 2003, S. 271 und 288.
  • Matthias Ruoss, Gesellschaft: Armutsrisiken und soziale Sicherheit, in: Geschichte des Kantons Nidwalden. Band 2. Von 1850 bis in die Gegenwart, Stans 2014, S. 153–160.
Bild zur Ausstellung: Garette
NM 12286, Schubkarre, Foto: M. Badran